Die zerbrochene Welt 02 - Feueropfer
Siath?«
Sie deutete zur Stirnseite des Dachgeschosses. Dort herrschten die Schatten, weil es keine Lichtöffnungen gab. »Da geht es in den Tempel rüber.«
»Der Rundbau hat vier Ausgänge«, erinnerte sich Veridas. »Vielleicht können wir an der Rückseite entkommen, beim Hochzeitshaus.«
»Versuchen wir’s«, sagte Taramis, nahm Shúrias und Aris Hände und lief voran.
Sie ließen den Ofen hinter sich und tauchten einmal mehr ins Zwielicht ein. Im Geist formte Taramis unterdessen eine kurze Nachricht an Allon, damit er Ischáh und ihre Gruppe zum betreffenden Ausgang des Tempels führe.
Nach wenigen Schritten stießen sie auf eine zweiflüglige Tür. Sie war verschlossen. Taramis bat seine Gefährten zurückzutreten und sprengte das Schloss allein mit seinem Willen. Es fiel ihm nicht leicht, wie er besorgt feststellen musste. Das fortgesetzte Geistwirken während des Kampfes auf dem Dach forderte seinen Tribut.
Sie erreichten eine sanft geschwungene Galerie. Vor ihnen lag eine Brüstung aus schwarzem Basalt. Dahinter öffnete sich ein gigantischer Raum.
»Das also ist der Bluttempel«, sagte Taramis, als er die riesige Rundhalle von der Balustrade aus überblickte. Ari stand neben ihm auf Zehenspitzen. »Erinnert mich irgendwie an ein Theater.«
Im Innenraum dominierte, genauso wie draußen, die Farbe Rot. Eine beinahe unheimliche Ruhe herrschte darin. Nur sehr leise drang der Lärm vom Vorplatz herein. Wer die dem Gott Dagon gewidmete Anbetungsstätte betrat, musste sich angesichts seiner kolossalen Dimensionen unweigerlich winzig vorkommen – was vermutlich auch so beabsichtigt war.
Das vielfarbige Licht, das durch die mit Buntglas gefüllten, hohen, schlanken Rundbogenfenster fiel, tat ein Übriges, um den Besucher zu verzaubern. Wie das reinigende Feuer des Großen Fisches durchströmte es die Galerien. Vom Boden bis zur Decke folgte eine auf die nächste. Mindestens ein Dutzend lagen übereinander. Wie Zuschauerränge, dachte Taramis. Welch abscheulichen Vorstellungen dieses Theater wohl diente?
Die Decke entpuppte sich von innen als flache Kuppel, was die gewaltigen Kräfte, die vom Dach auf die Außenmauern drückte, im Gleichgewicht hielt. Ähnlich wie im Thronsaal des peorischen Königspalastes prangte auch hier ein blaues Mosaik, das die vielfarbig schillernden Inseln des Ätherischen Meeres darstellte. Deutlich war der Speer Jeschuruns zu erkennen. Im Zentrum der Konstellation lag eine finstere Wolke: der Ruheort des Fischgottes, welcher an diesem Tag des Jahres symbolisch aus dem Schlaf der Erneuerung geweckt wurde.
Darunter befand sich ein mehrfarbiger Marmorboden: Die Konturen waren dunkelgrau, blau das tosende Weltenmeer, das hier einmal mehr versinnbildlicht wurde, und weiß das Bild des Gottes Dagon, der im Zentrum zu sehen war. Ein Altarblock aus schwarzem Basalt krönte sein lockiges Haupt.
»Dagonis gibt dir Gleichgewicht« , murmelte Taramis die uralten Worte aus dem Epigraph des Bundsteines von Jâr’en.
Veridas nickte. »Die Dagonisier betrachten ihre Insel als den Nabel der Welt. So ungern ich das auch sage, aber irgendwie stimmt es wohl.«
»Wie kommen wir zu den Ausgängen?«
»Ich habe nie einen Fuß in dieses Götzenhaus gesetzt …«
»Ich schon. Eglon hat mich dazu gezwungen«, sagte Siath. »Man kann die Portale von hier oben nicht sehen. Sie markieren die vier Himmelsrichtungen.« Die Ganesin deutete auf eine Stelle, die von der untersten Galerie beschattet wurde. »Da kommt man zum Haus der Tempelhuren. Es wird das Hochzeitstor genannt.«
»Warum das?«, fragte Taramis.
»Normalerweise führt der Große Fisch seine Braut am Auferweckungstag dort herein und dann über eine Wendeltreppe zum Bett hinauf. Es steht auf einer Plattform, mit der die Kuppel überdacht ist. Auf unserer Seite gibt es übrigens noch eine Treppe. Du hast also die Wahl: entweder die Enge der Galerie oder die Weite des ganzen Tempels.«
»Beides nicht gerade verlockend, falls die Tempelwächter uns entdecken. In einer Schlacht würde ich das offene Terrain trotzdem einem Hohlweg vorziehen. Da hat man mehr Raum zum Taktieren. Gehen wir gleich hier runter.«
Siath führte die Gruppe zu der Wendeltreppe. Es war keine enge Stiege wie in der Jâr’enischen Tempelbibliothek auf Ijjím Samúj, sondern eine großzügig geschwungene Marmorschnecke, außen mit einem kunstvollen Figurenfries geschmückt. Taramis lief wieder voraus, um sich im Fall unliebsamer Überraschungen schützend vor seine
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