Die zerbrochene Welt 02 - Feueropfer
lautete offenbar, den gefährlichsten Krieger zuerst umzubringen – sämtliche Pfeile zielten auf ihn.
Taramis sprang in die Höhe – von der Kraft des Geistes beflügelt und eingewoben in die Zähe Zeit. Indem er dabei den Körper in Drehung versetzte, brachte er einerseits seinen Kopf aus der Schusslinie und konnte andererseits die einzelnen Geschosse ins Auge fassen. Der Feuerstab fegte einen Pfeil aus dem Weg, der seinen Fuß getroffen hätte, die Mehrzahl prasselte auf Leviat ein und fiel herab. Einige zischten an ihm vorbei, mindestens zwei davon streckten Antische auf der Gegenseite nieder.
Keuchend landete Taramis wieder auf den Füßen. Jede abgeprallte Eisenspitze war ein schmerzender Punkt auf seinem Körper – und bald ein blauer Fleck. Größere Sorgen bereitete ihm indes sein ausgelaugter Geist. Viele solcher Aktionen, die ihn früher nur ein Lächeln gekostet hätten, konnte er sich nicht mehr erlauben. Er zückte das Schwert und zog sich schnell zu den Seinen zurück.
Fieberhaft wog er die Möglichkeiten ab und sammelte erneut seinen Willen. Aber wofür? Er fühlte sich zu erschöpft, um die Arkaden einzureißen. Selbst Trugbilder von Scheinzielen würden wenig nützen, wenn man von überall gleichzeitig auf sie schoss. Die Lage war so gut wie aussichtslos. Er schätzte die Zahl der Antische im Altarraum und oben auf der ersten Galerie auf sechs Dutzend. Vorhin hatte er mit einem wütenden Rundumschlag gerade ein Zehntel davon vom Dach gefegt und war immer noch ausgelaugt. Wie der Druck unter dem Deckel eines siedenden Kessels steigt, so staute sich die Kraft seines gezügelten Geistes, ohne dass er wusste, wohin er sie lenken sollte.
Seltsamerweise verzweifelte er aber nicht daran. Im Gegenteil: Ihn überkam eine unerklärliche Ruhe, wie er sie nie zuvor in irgendeiner Gefahr so deutlich gespürt hatte, schon gar nicht in Gegenwart des dagonisischen Königs oder seines Sohnes. »Habt keine Angst«, sagte er zu seinen Gefährten. »Ob wir leben oder sterben, Gao vergisst uns nicht.«
Die fischköpfigen Schützen spannten erneut ihre Bogen.
Plötzlich explodierte das im Sonnenlicht strahlende Fenster über Gaals Haupt, Abertausende von Glassplittern stoben in den Tempel. Es schien, als erwache der gläserne Krieger auf dem Schlachtross zum Leben und verwandele sich dabei in eine Krieger in auf einem Zweihorn. Vor ihr saß ein Zwerg mit einer mächtigen Doppelaxt.
Genauer gesagt war es ein Kirrie.
»Schneller, da gibt’s Arbeit!«, brüllte Jagur.
Allon senkte den Kopf, um den verpriesterten Gaal auf die Hörner zu nehmen. Geistesgegenwärtig tauchte dieser hinter der Balustrade ab, während der schwarze Hengst über ihn hinwegrauschte.
Seine Söhne waren weniger abgebrüht. Der geflügelte Schatten, der in einer glitzernden Wolke auf sie zukam, hatte sie aus dem Konzept gebracht.
In diesem Moment erkannte Taramis, wohin er die aufgestaute Kraft zu lenken hatte.
Sein Geist umfasste die stiebenden Glassplitter wie ein Fischernetz seinen Fang und riss sie fort von Ischáh und Jagur. Gleich einem wilden Bienenschwarm fauchten die scharfen Geschosse durch die Luft, wirbelten um Taramis, Shúria, Ari, Siath und Veridas herum und stoben dann in die Arkaden und Galerien.
Von allen Seiten ertönten Schmerzensschreie.
Taramis sackte auf das rechte Knie und keuchte. Die wenigsten Antische waren infolge seiner Verzweiflungstat getötet worden, unverletzt hatte sie dagegen keiner überstanden. Etliche dürften bis auf weiteres kampfunfähig bleiben. Doch allzu viele erhoben sich bereits wieder, ächzend vor Schmerzen, gespickt mit glitzernden Splittern und voll des Zorns.
Wo ist Gaal? Als Taramis nach dem König der Dagonisier Ausschau hielt, sah er nur die verlassene Galerie, dahinter das zerstörte Fenster und dahinter … Eine lebende Wolke? Er traute seinen Augen nicht.
Es waren Vögel. Ein ganzer Schwarm von Raben.
Das Ippo landete neben den Gefährten. Die beiden Reiter sprangen rechts und links vom Rücken des Hengstes. Die Ganesin blutete an der Schulter.
»Legt sofort die Waffen nieder!«, rief Ischáh. Ihre scharfe Anweisung galt offenbar nicht nur den Dagonisiern.
Rasch ließ Taramis das Schwert aus der Hand gleiten und erhob sich schwerfällig mithilfe des Stabes. Er kam sich wie ein Greis vor.
Jagur verdrehte zwar die Augen, trennte sich aber ebenfalls von seiner Lehi. »So geht das schon die ganze Zeit«, beklagte er sich. An Taramis gewandt fügte er hinzu: »Entschuldige.
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