Die zerbrochene Welt 02 - Feueropfer
die Schulter. »Sieht aus wie ein Atoll.« Der unbekümmerte Tonfall, um den sie sich bemühte, wollte ihr nicht recht glücken.
Ari sah sie mit fragendem Blick an. »Kommen wir nach Zeridia?« Er hatte das Stammland seines Volkes, der Zeridianer, noch nie besucht.
Shúria schüttelte den Kopf. »Nein, kleiner Jäger. Dieses Reich, das da vor uns liegt, ist viel, viel größer. Fast könnte man meinen, wir trieben nach Komana, in das Labyrinth der tausend Scherben . Ich habe es aus den Erzählungen deines Vaters nur etwas anders in Erinnerung. Nicht so … dicht gepackt wie der Inselhaufen da.« Sie deutete mit dem Kinn auf die leuchtenden Punkte.
»Vielleicht ist unsere Scholle ja nicht die einzige, die es dorthin zieht.«
»Das wäre möglich«, murmelte sie.
»Hast du Angst, Mama?«
»Wie kommst du darauf?«
Er zuckte mit den Schultern.
Sie legte ihre Hand an seine Wange und schüttelte entschieden den Kopf. »Nein, Ari. Gao wird uns beschützen, bis Papa kommt und uns holt.«
Sein Blick bohrte sich in den ihren, bis es ihr fast unangenehm wurde. Noch hatte sie nicht herausgefunden, welche Geistesgaben ihr Sohn besaß, doch sie wäre keinesfalls überrascht, wenn er mit seinen tief orangeroten Augen in das Innerste ihrer Seele sehen könnte. »Was hat er dir denn von Komana erzählt, Mama?«
Lauter böse Dinge. »Dass es da große Städte gibt.«
»Und was zieht uns dorthin?«
»Ich weiß es nicht, kleiner Löwe.« Und ich bin mir auch keineswegs sicher, ob wir es herausfinden sollten.
In der folgenden Nacht konnte Shúria zunächst nicht einschlafen. Als sie schließlich doch wegdämmerte, plagten sie Albträume. Sie sah sich und Ari in einer langen Menschenschlange vor dem Eingang zu einem riesigen Feuerofen stehen. Unten trieben Soldaten Kinder, Frauen und Männer mit Spießen in die Flammen, oben stieg schwarzer Qualm auf. Die Luft war geschwängert vom Geruch verbrannten Menschenfleischs. Als sie im Morgengrauen erwachte, war sie schweißgebadet.
Ihre zitternde Hand schloss sich um den Sternensplitter am Halsband, als könne der ihr verraten, ob das wirklich nur ein Traum gewesen war. Oder hatte sie ein drohendes Unheil gesehen? Es wäre nicht das erste Mal, dass ihr der Herr der Himmlischen Lichter im Schlaf die Zukunft gezeigt hätte. Ihr Blick wanderte zu Ari, der neben ihr im Stroh lag. Er atmete ruhig und regelmäßig. Lieber würde sie sterben, als ihn den Flammen auszuliefern.
Von innerer Unruhe getrieben erhob sie sich leise, verließ den Stall – und erlitt einen Schock.
Im Meer um sie herum trieben unzählige Inselbruchstücke, manche um ein Mehrfaches größer als ihre Scholle, etliche deutlich kleiner. Abgesehen von wenigen Ausnahmen besaßen sie eine eigene Lufthülle, in der sich das frühe Morgenlicht brach. Die Erkenntnis sickerte in Shúrias Bewusstsein, dass sie sich im Labyrinth der tausend Scherben befand. Anders konnte es gar nicht sein. Sie rannte am eingestürzten Wohnhaus vorbei zur Bruchkante, und ein Schauer lief ihr über den Rücken.
Vor ihr lag ein unförmiger Klumpen im Meer, eine unübersehbare Zusammenballung von Inseltrümmern mannigfaltigster Art. Es gab bergige und ebene Schollen. Auf manchen wucherte üppiges Grün, andere hatten außer nacktem Fels oder kargen Ödnissen nichts zu bieten. Sie waren so unterschiedlich wie die Regionen der Scherbenwelt. Irgendetwas hatte sie hier versammelt, so wie ein Magnet Eisenspäne anzieht. Jetzt backten sie alle aneinander und bildeten eine gigantische Traube.
Links, ein Stück zurückversetzt, entdeckte sie eine besonders große Insel in der Form eines Eichenblattes. Shúria war sofort klar, dass sich ihre Ahnungen damit bestätigten. Geradeso hatte Taramis die Hauptinsel des Königreichs der hundert Stunden beschrieben. Die kleine Scholle trieb genau darauf zu.
Shúria wirbelte herum und rannte in den Stall zurück. Taramis hatte ihr erzählt, dass hier während der dagonisischen Besatzung ständig Patrouillen unterwegs waren. Gewiss würde man das fremde Bruchstück schon bald sichten und sich seiner annehmen.
Als Erstes lief Shúria zu den Waffen, die sie aus dem Blockhaus geborgen hatte. Falls nötig, würde sie sich damit als würdige Schülerin ihres Lehrmeisters erweisen. Sie band sich den breiten Gurt mit dem Schwert Malmath um und zog den Schild Schélet unter dem Stroh hervor. Danach weckte sie Ari.
Der Junge rieb sich die Augen. Obwohl es im Stall noch ziemlich dunkel war, merkte er gleich, dass etwas
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