Die zerbrochene Welt 02 - Feueropfer
Geflirre der Vögel im Wechsel mit Türbogen, die in andere Räume führten. Es fiel ihm nicht leicht, sich die Architektur des Gebäudes vorzustellen. Vom Grundriss her schien es sternförmig sein, was ja auch zu seinem Namen gepasst hätte. Es näher zu erkunden verbot sich von selbst. Zunächst musste er dem Herrn des Hauses, der auf einem Quader aus Alabaster in der Mitte der Rundhalle schlief, die Ehre erweisen.
Taramis spürte, wie sein Herz heftig schlug. Das konnte nur Olam sein, der legendäre Äonenschläfer. Verhaltenen Schrittes näherte er sich dem weißen Sockel. Die schlanke Gestalt darauf trug lange weite Hosen und eine ärmellose Tunika aus einem dunkelgrünen Stoff, der wie Wildseide schimmerte und auf sonderbare Weise mit der ganesischen Kaufmannstracht des Besuchers harmonierte. Olams Füße waren nackt. Er rührte sich nicht. Nicht einmal der Brustkorb unter seinen gekreuzten Armen hob und senkte sich, wie man es normalerweise von einem Schlafenden erwarten sollte. War er denn tot?
So sah er eigentlich nicht aus. Er hatte ein altersloses Gesicht und hätte ebenso gut vierzig wie weit über siebzig Jahre alt sein können. Mit der langen, geraden Nase, den ausgeprägten Wangenknochen und dem wohlgerundeten Kinn wirkte es edel und strahlte eine erhabene Würde aus. Irgendwie kam es Taramis bekannt vor.
Das dichte, kurze, grau melierte Haar des Schläfers musste einst schwarz gewesen sein. Seine olivfarbene, samtige Haut war, abgesehen von einigen kaum sichtbaren Fältchen um die Augen herum, makellos glatt und ließ keinerlei Anzeichen von Verfall erkennen.
Auf der letzten Scherbe des verlorenen Paradieses gab er dem Äonenschläfer einen Ort ungestörter Ruhe …
Einmal mehr gingen Taramis die Worte aus dem steinernen Buch durch den Sinn. Er hatte sich den Empfang im Sternenhaus anders vorgestellt. Nicht so still. Unsicher umrundete er den weißen Sockel. Was sollte er jetzt tun? Wo war der Reif der Erkenntnis zu finden? Jedenfalls nicht auf dem Haupt Olams, so viel stand fest.
Taramis lehnte den Feuerstab an den Alabasterquader, griff nach dem Handgelenk des Äonenschläfers, um seinen Puls zu fühlen – und erschrak.
Der Mann war hart und kalt wie Stein. Zaghaft tippte Taramis den grünen Stoff der Tunika an. Auch sie war erstarrt. Mit den Haaren verhielt es sich ebenso. So lebendig dieser Mensch auch aussah, er war durch und durch versteinert.
… ein Hort für das ewige Licht, bis Jeschuruns Flamme ihn ruft.
Mit einem Mal fiel Taramis ein, was das steinerne Buch noch über den Äonenschläfer gesagt hatte. Meinte es mit dem Licht Olams Leben? Und was war Jeschuruns Flamme? Etwa ich selbst? Sein Blick löste sich von dem Mann und heftete sich auf den Stecken, der neben ihm am Sockel lehnte. Oder Ez?
Er nahm den Feuerstab wieder an sich und hielt ihn mit ausgestreckten Armen parallel zum Körper des Versteinerten. Kann das sein? Taramis legte Ez behutsam nieder. Der schwarze Schaft reichte vom Kinn des Schlafenden bis über dessen Füße hinaus.
Das Haus der Sterne veränderte abermals seine Gestalt. Irgendwo öffnete sich ein Fenster. Ein Sonnenstrahl bahnte sich seinen Weg in die Rotunde und brachte das Gesicht des Äonenschläfers förmlich zum Glühen.
Plötzlich hob sich dessen Brust unter einem tiefen Atemzug. Der Feuerstab drohte dadurch zur Seite zu rollen, doch die Hand des Erwachenden packte überraschend schnell zu und hinderte ihn daran. Dann schlug er die Augen auf. Sie waren dunkel und groß. Als sie den Mann neben dem Sockel bemerkten, lächelte Olam.
»Taramis?«
Der bekam die heftigste Gänsehaut, die er je in seinem Leben gehabt hatte. Sämtliche Härchen auf seinem Körper sprangen in die Höhe. Woher kennt er meinen Namen?
Als habe der Äonenschläfer nur ein kurzes Nickerchen gemacht, schwang er die Beine geschmeidig herum und ließ sie vom Rand des Quaders baumeln. Ez hielt er auf seinen Oberschenkeln fest. »Du überlegst jetzt bestimmt, woher ich deinen Namen kenne?«
Der Gefragte brachte kein Wort heraus.
Olam blickte auf den Feuerstab herab und seufzte. »Es kommt mir wie gestern vor. Darin liegen zugleich Segen und Fluch meines jahrelangen Schlafs.« Er hob Ez vom Schoß auf und reichte ihn Taramis. »Hier. Man soll ein Geschenk niemals zurücknehmen. Er gehört dir.«
Zurücknehmen? Taramis schnappte zuerst nach Luft und dann nach dem Stab. »Mit so etwas treibt man keinen Scherz, Herr. Ez ist das einzige Andenken, das ich an meinen Vater
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