Die zerbrochene Welt 03 - Weltendämmerung
zu haben, waberte über den Boden oder wogte in dichten Schwaden durch den Wald. Mit einem mächtigen Satz überquerte er einen Bach. Beim Erklimmen der Böschung jenseits des Wasserlaufs blieb er mit dem Fuß in einer Wurzelschlinge hängen und stürzte der Länge nach hin. Gehetzt sah er sich um. Das dunkle Gewölk kam immer näher.
Als er sich wieder aufrichtete, bemerkte er zu seiner Rechten einen hohlen Baumstamm. Der von der Last des Alters gefällte Riese musste schon seit einer Ewigkeit hier vor sich hinmodern.
Der Jäger rannte zu dem moosbedeckten Stamm. Ob er in das Loch hineinpasste? Er ließ seine Speere fallen und schob sich mit den Füßen voraus in die enge Öffnung, den Blick unverwandt auf das nahende Dunkel gerichtet. Je tiefer er in den Baum eindrang, desto schwerer kam er voran. Die Hüften konnte er gerade noch hineinzwängen. Bei der muskulösen Brust war plötzlich Schluss.
Er steckte fest.
Verzweifelt versuchte er, sich aus der Umklammerung des modrigen Riesen zu befreien. Zu spät. Mit schreckensweiten Augen sah er die Wolke auf sich zurasen. Sie brüllte nicht wie ein Sturm, fauchte nicht wie eine Bestie, und doch war ihre Lautlosigkeit für ihn schrecklicher als jeder Zweikampf mit einem lärmenden Gegner.
Als die finstere Woge seinen Kopf umspülte, packte ihn die kalte Angst. Er spürte ein unangenehmes Brennen in den Kiemenspalten an der Rückseite des Halses. Instinktiv wollte er fliehen und stemmte sich mit aller Gewalt gegen den Klammergriff des knorrigen Alten an. Vergeblich. Je mehr er sich anstrengte, desto größere Mengen des feinen schwarzen Staubes atmete er ein. Es fühlte sich an, als steckten ihm tausend stachlige Disteln im Rachen.
Ihm wurde schwindlig. Verwirrende Bilder überschwemmten seinen Geist, Szenen aus der Vergangenheit. In diesen Erinnerungsfetzen war er ein Mensch unter anderen Menschen – der Mann aus seinen Träumen. Vergiftete das Dunkel seine Sinne, bevor es ihn tötete?
Die Furcht mobilisierte in ihm ungeahnte Kräfte. Er packte das morsche Holz mit seinen schwieligen, starken Händen und zerrte daran. Ein gepresster Laut entrang sich seiner Kehle, während er mit zusammengebissenen Zähnen und geschlossenen Augen seine Muskeln und Sehnen bis zum Zerreißen spannte.
Auf einmal brach ein großes Stück aus dem Stamm heraus, und der Vergessene kam frei.
Keuchend sank er auf den Waldboden herab, rollte sich auf den Rücken und blickte zu den Baumwipfeln empor. Über dem Blätterdach war blauer Himmel zu sehen.
Lauris setzte sich überrascht auf und sah sich um.
Die Tiere im Wald tobten immer noch wie toll, doch die dunkle Wolke war verschwunden. Sie hatte wie der Fangarm eines Ätherpolypen nach ihrer Beute – der Insel – gegriffen und sich ebenso rasch wieder zurückgezogen.
»Lauris?«, murmelte der vergessene Jäger. Seine Zunge war schwer, weil er seit undenklicher Zeit kein Wort mehr gesprochen hatte. Dennoch brachen beim Klang des eigenen Namens endgültig die Dämme seiner Erinnerungen. All das verloren Geglaubte kehrte plötzlich zurück.
Ja, er war Lauris , Sohn des Hohepriesters Eli, Bruder von Xydia und Shúria und mächtigster Jäger seines Stammes. Viele Jahre lang hatte er wie ein wildes Tier gelebt. Doch nun war er endlich frei von dieser Fessel, die ihm Gulloth einst angelegt hatte. Sein umnebelter Verstand war wieder so rein wie die Luft nach einem Sommergewitter. Hatte er diese glückliche Wendung der dunklen Wolke zu verdanken? Oder der unbändigen Angst, die sie wie eine unheilvolle Saat über die Insel ausgebracht hatte?
Auch damals hatte er Beklommenheit verspürt, als er auf seiner Heimatinsel Zeridia ausgezogen war, um einen Menschenfresser zu erlegen. Diese Art Furcht zeichnete jeden guten Jäger aus, denn sie schärfte seine Sinne und erhöhte die Wachsamkeit. Als er dann plötzlich einem fischköpfigen Antisch gegenübergestanden hatte, war er trotzdem überrascht gewesen.
Sie hatten erbittert gekämpft. Lauris’ Niederlage war besiegelt, als sein Gegner sich in einen gewaltigen Wolfsdrachen verwandelte. Gulloth hatte die Gestalt jedes von ihm getöteten Lebewesens anzunehmen vermocht.
Noch furchtbarer war aber eine andere Gabe des mächtigen Geistwirkers gewesen: Er hatte nur den Kopf eines Menschen mit seinen Pranken zu umfassen brauchen, um ihn seines Verstands zu berauben. So war Lauris zum Tier geworden, zum vergessenen Jäger – er verlor sich selbst aus dem Bewusstsein.
Dieserart entmenschlicht,
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