Die zerbrochene Welt 03 - Weltendämmerung
auch bevor?«
Ihre Augen bekamen einen traurigen Ausdruck. »Etwas viel Schmerzvolleres. Wahrscheinlich wird mein Vater mich ins Zelt eines greisen Stammesfürsten schicken, um unsere Familien fester aneinanderzubinden.«
Ari hatte sich über das Heiraten bisher wenig Gedanken gemacht und verspürte nicht den geringsten Drang, jetzt damit anzufangen. Was ihn wirklich bewegte, waren die Gefühle anderer Menschen. Im vergangenen Jahr hatte er in Peor mancher Hetäre Trost zugesprochen – einige waren kaum älter als Yula gewesen. Das Mädchen tat ihm leid. »Meine Mutter sagt, das Leben ist wie ein Fluss. Die meisten lassen sich darauf einfach treiben. Irgendwann werden sie von Stromschnellen mitgerissen oder stürzen Wasserfälle hinunter. Manche jedoch setzen Segel und bestimmen selbst ihren Kurs.«
Die hübschen Augen über dem Schleier lächelten. »Wenn man in den Steppen lebt, dann ist das nicht so leicht. Frauen zählen hier weniger als Pferde. Trotzdem danke für den Versuch, mich aufzumuntern. Bei uns sorgt sich kein Junge um die Gefühle eines Mädchens. Unsere Männer erwarten nur, dass wir um sie trauern, sollten sie im Kampf sterben.« Yula schluckte. Ihr Blick sank zu Boden.
»Was bedrückt dich?«
Sie sah ihn überrascht an. »Kannst du Gedanken lesen?«
»Nein. Aber ich fühle es, wenn jemand bekümmert ist.«
»Mein großer Bruder ist kürzlich auf einem Feldzug gestorben. Seitdem ist mein Vater ein anderer Mensch. Er hat ihn sehr geliebt. Sakims Mörder wollte den Khan töten, doch er hat stattdessen seinen Sohn getroffen.«
Ari sah sie entsetzt an. »Er hieß Sakim?«
»Ja. Hast du schon von ihm gehört?«
Er nickte nur betreten. Die Erinnerung an den Überfall der Kesalonier war mit einem Schlag wieder da. Er hatte im Haus jedes Wort von Bahadurs schrecklicher Drohung verstanden. Erschlagt die Hunde! Zerstückelt sie. Zieht ihnen die Haut vom Leib. Wer mir den Kopf des Mannes bringt, der Sakim ermordet hat, erhält von mir einhundert Pferde …
»Möchtest du etwas trinken?«
»Ja bitte«, antwortete er leise. Beschämt beobachtete er sie, wie sie einen Becher für ihn füllte. Aus jeder ihrer Bewegungen sprachen Anmut und fürsorgliche Umsicht. Behutsam setzte sie das Gefäß an seine Lippen. Er trank in kleinen Schlucken. Die süßliche Stutenmilch schmeckte nach Nüssen und Kräutern.
»Und?«, fragte sie. »Ist sie gut?«
»Ja. Ich bin überrascht. Es ist das erste Mal, dass ich Pferdemilch trinke.«
»Dann haben wir heute beide etwas Neues dazugelernt. Danke, Loki, dass du mich nicht verachtest.«
Er schlug verlegen die Augen nieder. Mit einem Mal schmerzte es ihn, sie mit einem falschen Namen zu täuschen. »Mein Vater sagt, dass vor Gao alle Menschen gleich sind, so unterschiedlich sie auch aussehen. Leider …« Er räusperte sich. »Ich wüsste gerne, wie du aussiehst.«
Yula sah ihn erschrocken an.
»Habe ich etwas Verkehrtes gesagt?«
Sie schüttelte den Kopf. »Du kennst unsere Bräuche nicht. Kein Mann, außer der eigene, darf das Gesicht einer heiratsfähigen Frau sehen.«
»Entschuldige bitte. Ich wollte nicht …«
»Pst!«, unterbrach sie ihn, beugte sich zu ihm vor und sagte mit einem verschmitzten Unterton: »Ich trage den Schleier erst seit Kurzem. Wenn ich ihn noch einmal lüfte, nur für dich, dann musst du es für dich behalten. Versprichst du mir das?«
Er nickte rasch. Diesem Mädchen hätte er alles versprochen.
Yula griff mit beiden Händen nach den unteren Zipfeln des luftigen Tuches …
Unvermittelt wurde die Filzdecke vom Eingang zurückgeschlagen, und Sagur betrat das Zelt. Hinter ihm war Tobas massige Gestalt zu sehen. »Hat der Gefangene gegessen?«, fragte er in einem Ton, der nicht die geringste Achtung vor der Tochter des Khans erkennen ließ.
Yula straffte den Rücken. Aufrecht, doch ohne sich zu dem Krieger umzuwenden, antwortete sie: »Er ist noch dabei.«
»Dann wird er sein Mahl später fortsetzen. Dein Vater hat uns befohlen, mit ihm zu sprechen. Er möchte gerne mehr über den Jungen erfahren, als er uns bisher verraten hat. Du kannst dich entfernen, Yula. Ich lasse nach dir rufen, wenn du wieder gebraucht wirst.«
Das Mädchen drehte sich auf Knien zu dem Anführer um und verbeugte sich, bis ihre Stirn den Boden berührte. »Herr Sagur.« Sie erhob sich und verließ die Jurte.
Die beiden Männer warteten, bis die Filzdecke vor den Eingang gefallen war. Dann kamen sie näher und bauten sich breitbeinig vor dem Jungen auf.
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