Die Zeugin: Thriller (German Edition)
verschwand. Das Geld wurde nie gefunden. Da hab ich mir überlegt, dass er dieses Geheimnis sicher nicht für sich behalten wollte – falls ihm was zustößt. Und die einzige Verbindung zu mir waren die Postkarten.«
Boone trat vor. »Wo hast du sie versteckt?« Lang und schwarz richtete sich der Gewehrlauf auf sie.
Es kostete sie unendlich viel Kraft, alles Weinerliche aus ihrer Stimme zu verbannen. »Ich hab sie aus dem Haus meiner Eltern geholt und sie Seth gegeben.«
Riss schüttelte den Kopf, wie um die Ohren freizubekommen. »Du willst uns verarschen.«
»Nein.«
Boones Lippen klafften auseinander wie bei einem Fisch. »Seth.«
Rory starrte ihn böse an. Dazu brauchte es nicht viel, denn sie war kurz davor auszurasten.
»Moment.« Riss sann nach. »Moment mal. Du behauptest also, mein Dad hat dir geschrieben, wo das Geld versteckt ist, und du hast nie nachgeschaut? Das ist doch komplett hirnrissig.«
»Natürlich nicht. Aber er hat immer in Reimen und Rätseln geschrieben. Als ich klein war, dachte ich, dass er mich an seinem Abenteuer teilnehmen lassen möchte. Dann hab ich sie gestern noch mal gelesen. Es sind Koordinaten. Längen- und Breitengradangaben. Er hat mir Hinweise gegeben.«
»Und warum dir?« Warum nicht mir?, brannte wie Säure in ihrer Stimme.
»Weil er wusste, dass ich sie sammle. Dass meine Eltern nicht umziehen. Dass sie sie – und all meine anderen Sachen – aufheben wie einen Schatz.«
Mit gehässig funkelnden Augen trat Riss vor und versetzte Rory eine Ohrfeige. Amber ächzte auf. Addie zuckte zusammen und begann zu weinen.
Rorys Gesicht brannte, doch sie nahm es hin. Jetzt bloß nicht die Beherrschung verlieren. »Das Geld liegt in den Bergen.«
»Gottverdammte Prinzessin«, fauchte Riss. »Wo?«
»Im Nationalforst. Ich bring euch hin.« Sie deutete zur Tür. »Aber wir müssen schleunigst abhauen, bevor Mirkovic aufkreuzt. Denn sonst macht er einfach so …« Sie schnippte mit den Fingern. »Und ihr seid raus aus der Sache.«
Boone nickte. »Ja. Besser, Mirkovic ist raus aus der Sache. Also los.«
Rory blieb unnachgiebig. »Du, ich und Riss. Wir fahren.«
Boone winkte zur Tür. »Alle in den Wagen, kommt.«
»Nein«, entgegnete Rory. »Deine Mom soll Addie woanders hinbringen.«
In Riss’ Gesicht trat ein verschlagener Ausdruck. »Warum?«
»Abgesehen davon, dass Mirkovic jeden Moment hier sein kann, bringt das einfach nichts mit Addie. Sie hält doch nicht mal in deinen Armen still. Wir fahren in den Wald, um fünfundzwanzig Millionen Dollar auszugraben. Wir können es uns nicht leisten, dass ein weinendes Kind die Aufmerksamkeit auf uns lenkt.«
Boone war bereits auf halbem Weg zur Haustür.
Aber Riss bewegte sich nicht. »Du hältst dich wohl für sehr schlau. Los jetzt. Addie kommt mit uns.« Mit dem Mädchen auf dem Arm stieß sie Rory in den Flur.
Sie traten hinaus und steuerten auf den Abschlepplaster zu. Er parkte ein gutes Stück weiter oben am Hügel, wo Rory ihn vom Haus aus nicht hatte sehen können. Der Wind war stärker geworden. Immer wieder klatschte das Fliegengitter gegen die Mauer wie vereinzelter Applaus. Auf der anderen Straßenseite stand in einem dichten Hain von Lebenseichen Riss’ Toyota Land Cruiser. Offenbar war sie im Leerlauf den Hügel heruntergerollt und hatte den Wagen versteckt abgestellt, um sich durch die Hintertür ins Haus schleichen zu können.
Boone hatte die Hand in Rorys Haar gekrallt und presste ihr das Gewehr in die Rippen. Riss folgte von hinten und stieß sie immer wieder zwischen die Schulterblätter.
»Ihr müsst nicht drängeln. Ich bringe euch hin.« Rory lauschte angestrengt, ob Mirkovics Kavallerie anrollte, doch das laute Rauschen des Windes in den Eichen und Eukalyptusbäumen übertönte alles andere.
Sie war erfüllt von abgrundtiefem Entsetzen, wie nach einem Tritt in den Unterleib. Trotz aller Ereignisse der Vergangenheit konnte sie nicht begreifen, dass ihre eigenen Verwandten so skrupellos waren und ohne jede Hemmung einfach ihrem animalischen Instinkt folgten. Billiges Anschauungsmaterial für die Kraft von Hass und Gier.
Schwarz und leer erstreckte sich die baufällige Straße den Hügel hinunter bis zur Talsohle. Wie ein knotiges Seil zog sie sich durch Unterholz und Felder. In der Ferne lag unter einer sandfarbenen Dunstglocke die Stadt. Dahinter erhoben sich felsig und einsam die schroffen, blaugrauen Kämme der Berge. Boone starrte sie fasziniert an. Die Aussicht auf das Geld schien ihn
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