Die Zeugin: Thriller (German Edition)
worden.« Rory bemühte sich um eine klare Ausdrucksweise. Doch selbst in ihren eigenen Ohren klangen ihre Worte wirr und fahrig. »Er wurde in den Tunnel gerissen. Schicken Sie Rettungssanitäter hin.«
Sie versuchte, die Ruhe zu bewahren, doch vor ihren Augen tauchte ein Bild auf: Seth, wie er zusammensackte. Dazu wie ein Peitschenhieb der Gewehrschuss.
»Ihr Name, Ma’am?«
Rory nannte ihn. »Und Sie haben vorhin einen Streifen wagen zum Haus meiner Tante geschickt. Er soll sich beeilen. Das ist ein Notfall. Ich bringe sie und ihre Enkelin weg. Wir fahren zu dem Minimarkt weiter unten an der Straße.«
Sie spähte durchs Fenster. Entdeckte nichts als wehenden Staub. »Ich fahre einen roten El Camino.«
»Ma’am, bleiben Sie im Haus. Verriegeln Sie Türen und Fenster und warten Sie.«
»Das ist zu gefährlich.«
In diesem Moment presste sich ein stumpfer, kühler Metallring an ihren Hinterkopf. Dazu eine leise Stimme: »Schsch.«
Rory erstarrte.
Von hinten griff eine Männerhand um sie herum und entwand ihr das Telefon. Ohne den Lauf der Schrotflinte von ihrem Kopf zu nehmen, trat Boone nach vorn.
52
Boones Gesicht war ausdruckslos. »Kein Wort.«
Rory bewegte sich nicht. Boone legte den Hörer auf. Dann riss er die Buchse aus der Wand.
Amber war totenblass. »Was machst du da, Junge?«
»Nimm die Kleine, Ma.«
»Was ist mit deinem Gesicht passiert?«
Aus dem Augenwinkel sah Rory, dass er auf sie deutete.
»Das war sie. Nimm das Kind, verdammt noch mal.«
Rory hielt Addie fest. »Wir verschwinden hier, Boone.«
»So kann man es ausdrücken. Aber nicht mit ihr. Sie gehört mir.«
Amber bekam große Augen. Wie gelähmt stand sie da, das Gesicht schlaff. »Boone, du kannst doch nicht …«
Mit einem Schlag erkannte Rory, was sie da vor sich hatte: nackte, namenlose Angst.
»Mirkovic kommt«, stammelte Amber. »Was macht er, wenn er dich mit Addie findet?«
Rorys Nerven waren bis zum Zerreißen gespannt. Sanft wanderte der Gewehrlauf zu ihrer Schläfe. Sie roch Waffenöl und Schießpulver.
Boone zerrte Addie von ihrem Arm. Die Kleine wurde ganz steif. Auch wenn sie nicht weinte, hatte sie gemerkt, dass etwas nicht stimmte. Amber stand noch immer da wie ein Stück geschmolzenes Plastik.
»Das Sheriff’s Department hat alles mitbekommen«, sagte Rory. »Sie sind schon unterwegs.«
»Auch wenn sie schnell sind«, antwortete Boone, » so schnell sind sie nicht.« Erneut schob er Rory die Waffe ins Haar.
Sie zuckte zusammen.
Lachend trat er zurück und stützte Addie an der Hüfte ab. Dann zielte er mit dem Gewehr auf Rorys Brust. Addie streckte die Arme nach Rory aus, ihre Finger öffneten und schlossen sich.
Boone riss sie weg. »Vergiss sie. Wer ist mein Liebling? Gib mir einen Kuss.« Ungelenk bohrte er ihr die Finger in die Rippen, um sie zu kitzeln. Addie wand sich hin und her.
»Lach doch mal.«
Addie quiekte unglücklich. »Nicht, Onkel Boone.«
»Komm schon, das macht doch Spaß.« Sein aufgesetztes Lächeln verblasste.
In diesem Moment hörte Rory, wie sich die Hintertür öffnete. Im Flur hinter Boone bewegte sich ein Schatten. Dann kam Riss ins Blickfeld.
Boone war so auf Addie konzentriert, dass er sie nicht bemerkte. Rory stellten sich die Haare im Nacken auf. Lautlos schälte sich Riss aus dem Halbdunkel. Sie beobachtete Boone mit dem Kind. Und als Boone auflachte, verdüsterte sich ihr Gesicht.
Mit starrem Blick schob sie sich in den Raum. »Was machst du da?«
Erschrocken fuhr er herum. »Wo warst du?«
Wortlos trat sie zu ihm und nahm ihm Addie ab.
Wimmernd schaute das Mädchen zu Amber. »Nana.«
Amber umklammerte den Tresen wie die Reling eines sinkenden Schiffs.
»Was treibt Rory hier? Die sieht ja aus wie ein ertrunkener Hund.« Erst jetzt bemerkte Riss Boones Gesicht. »Was hast du denn …«
»Sie hat mich angezündet. Die Schlampe hat mich angezündet. « Boone hakte das Gewehr in die Armbeuge. »Und sie wollte abhauen.«
Amber drückte eine zitternde Hand vor den Mund. »Riss, Boone … was habt ihr getan?«
»Halt den Mund«, sagte Riss kalt. »Wo ist Mirkovic? Wo sind seine Leute?«
Rory fand ihre Stimme wieder. »Sie sind hierher unterwegs. Und sicher nicht mit Kaffee und Kuchen.«
Riss musterte sie voller Berechnung.
»Mirkovic kommt wegen Addie, und er ist wütend, weil du ihn angelogen hast.« Rory atmete tief durch. »Wir müssen hier raus. Alle, und zwar schnell.«
Riss’ Miene drückte eher Unglauben als Misstrauen aus. »Du hast hier
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