Die Zeugin: Thriller (German Edition)
ohne zu blinzeln. Rory fragte sich, ob er verängstigt oder eher katatonisch war.
»Allerdings«, setzte Yamashita hinzu, »läuft das Verfahren noch, solange das Gericht keine offizielle Entscheidung getroffen hat. Und Sie fungieren weiter als Geschworene. Sie können jederzeit zum Gericht bestellt werden. Fahren Sie also bitte nicht weg, bleiben Sie in der Stadt.«
An den Boden genagelt, dachte Rory. Aufgereiht wie Schießbudenfiguren.
Auf dem Weg nach draußen ging Helen Ellis neben Rory. Die Haltung der Älteren war über Nacht ganz steif geworden, als hätte sie Mühe, sich fortzubewegen, weil sich die Schwerkraft verdreifacht hatte.
»Alles in Ordnung?«, fragte Rory.
»Mein Mann wollte, dass ich heute Morgen in die Kirche gehe und mit dem Pfarrer rede.« Sie schüttelte den Kopf. »Wir sind die Cloud Canyon Road runtergekommen, vorbei an den hohen Felsen. Am Morgen scheint doch öfter die Sonne durch den Schlitz dazwischen, und es sieht aus wie ein Kreuz, Sie wissen schon.«
Rory wusste es nicht, nickte aber trotzdem.
»Heute war es besonders hell, und es hat mich an ein Fadenkreuz erinnert. Ich musste anhalten. Ich konnte einfach nicht vorbeifahren. Ist das nicht albern?«
Rory drückte ihr zum Abschied die Hand.
»Passen Sie auf sich auf«, sagte Helen.
Noch auf der Treppe klingelte Rorys Telefon.
Es war ihr früherer Juraprofessor David Goldstein. »Meine Güte, Ms. Mackenzie, stimmen die Zeitungsberichte? Sie waren gestern in diesem Gerichtssaal?«
»Ich und noch sechzig andere.«
»Wie furchtbar. Geht es Ihnen gut, meine Liebe?«
Ein richtiger Teddybär unter der steifen Schale.
»Ja und nein. Ich brauche Ihre Hilfe.«
Auf dem Weg hinunter zur Eingangshalle erklärte sie ihm die Lage. Draußen war ein Kamerateam in Stellung gegangen. Sie kehrte ihm den Rücken zu und senkte die Stimme. »Ich brauche einen Anwalt. Einen Experten für Strafrecht. Am besten einen mit Erfahrung.«
»Das klingt ernst«, entgegnete Goldstein nachdenklich. »Ms. Mackenzie, das Verhalten dieser Polizeibehörde macht mir große Sorgen.«
»Deswegen habe ich mich an Sie gewandt.«
»Überlassen Sie das mir. Ich melde mich wieder.«
»Sie wissen ja gar nicht, wie dankbar ich Ihnen bin, Professor Goldstein.«
»Warten Sie erst mal ab, was der Strafrechtler dazu sagt.«
Sie verabschiedete sich und trat durch die Tür hinaus in die Sonne. Noch immer lungerten einige Katastrophentouristen herum, die auf irgendetwas deuteten und Fotos schossen. Die Leute vom Fernsehen waren zum Glück mit sich selbst beschäftigt und bemerkten Rory nicht. Als sie schon fast die Ecke erreicht hatte, hörte sie plötzlich eine Stimme.
»Aurora. Aurora Mackenzie.«
Auf der Seitenstraße hatte ein chromfarbener Toyota Land Cruiser angehalten. Eine Frau steckte den Arm durchs Beifahrerfenster und winkte ihr.
Rory erstarrte. Ihre Tante Amber.
Sie überlegte, ob sie sich mit Schaum vor dem Mund auf den Boden fallen lassen oder hinüber zu dem Nachrichtenteam laufen und gestehen sollte: die Ermordung von John F. Kennedy.
In Ambers Brille blitzte das Sonnenlicht, als sie sich mit ausladender Geste durchs Fenster lehnte. »Komm her, Goldschatz.«
Besser, sie brachte es gleich hier in der Öffentlichkeit hinter sich, wo sie Eile vorschützen konnte. Vorsichtig näherte sie sich dem Auto.
Auf der Fahrerseite stieg ihre Cousine Nerissa aus.
Ein Schluck Batteriesäure, um den Süßstoff runterzuspülen. »Hi, Riss.«
Beseelt von verwandschaftlicher Eintracht, griff Amber nach Rorys Hand. »Ich finde es unglaublich mutig, dass du heute Morgen hierhergekommen bist.«
»Was führt dich in die Stadt?«, fragte Rory.
Amber trug Handgelenkschoner. Angeblich litt sie an einem Karpaltunnelsyndrom und hatte chronische Schmerzen, doch soviel Rory wusste, hatte sie in den letzten zehn Jahren kein einziges Wort getippt. »Wir haben uns solche Sorgen um dich gemacht, mein Liebling.«
Amber war dreiundfünfzig, sah aber aus wie ausgewrungene sechzig. Ihre Janis-Joplin-Mähne war in einem ätzenden Rot gefärbt. Und die mit riesigen Gänseblümchen und Honigbienen gemusterte Bluse drohte den ganzen Wagen zu sprengen.
»Danke, ich weiß es zu schätzen.«
Riss umkurvte die Motorhaube. »Keinen Kratzer hast du abgekriegt. Ein echtes Wunder. Und jetzt wollen natürlich alle wissen, wie du da rausgekommen bist.« Sie schob die Hände in die Hintertaschen ihrer Jeans. Wie eine Qualle glitt ihr hauchdünnes Top über ihre Brüste. Fast träumerisch. Sie
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