Die Zeugin: Thriller (German Edition)
Mir blieb nur der erste Flug nach Hause.«
Lang und konzentriert ruhte Seths Blick auf ihr. Doch sie wusste, dass er nichts in ihrem Gesicht lesen konnte, auch wenn er es versuchte. Inzwischen hatte sie gelernt, sich zu tarnen.
Er hatte geglaubt, sie verloren zu haben. Und dabei wusste er nicht einmal die Hälfte.
»Vielleicht tauchst du in den nächsten Tagen lieber ein bisschen ab«, meinte er. »Außerhalb der Stadt.«
»Was glaubst du, was ich in den letzten zwei Jahren gemacht habe? Wie gesagt, ich war in Helsinki, in London, in Genf. Und trotzdem bin ich wieder hier.« Sie stieg aus.
Nach einem letzten Blick in den Rückspiegel fuhr er weg.
Kurz verharrte sie auf dem Gehsteig. Wer war dieser Fremde?
Das war nicht der unbekümmerte Junge, der sie als Kind beschützen wollte. Es war nicht der idealistische, draufgängerische Polizist, der sie mitgerissen hatte. Nein, dieses neue Gesicht kannte sie nicht.
B eim Betreten des Gerichtsgebäudes beschleunigte sich Rorys Puls. Alles wirkte schrill, heller als normal, mit gestochen scharfen schwarzen Rändern. Winzige Geräusche, wie von einem vorbeifahrenden Auto aufgewirbelte Steinchen, prallten an ihr Ohr. An der Sicherheitskontrolle wurde sie von zwei uniformierten Deputys begrüßt.
Einer hob die Hand. »Heute finden keine Gerichtsverhandlungen statt.«
Rory kramte ihren Führerschein heraus. »Ich bin Geschworene im Elmendorf-Prozess. Ich wurde herbestellt.«
Seine Miene wurde milder. Er suchte ihren Namen auf einer Liste an seinem Klemmbrett. »Kommen Sie rein. Freut mich, dass Sie unverletzt geblieben sind.«
»Mich auch. Wie geht’s den Wachen, die gestern Dienst hatten?«
»Gut. Sie haben heute frei bekommen.«
Natürlich. Und ihren Job waren sie wahrscheinlich auch los. Rory fiel auf, dass die Sicherheitsvorkehrungen insgesamt verstärkt worden waren. Auch die nur als Ausgang dienenden Seitentüren wurden jetzt bewacht, damit sich niemand mit einer Schusswaffe hineinschleichen konnte – wie es der Gerechtigkeitsfan offenbar getan hatte.
»Hoffentlich bleibt heute alles ruhig hier«, sagte sie.
»Hoffentlich.«
An der Tür zu einem Saal im ersten Stock hakte ein Gerichtsdiener Rorys Namen auf einer weiteren Liste ab. Es handelte sich um eine geschlossene Sitzung unter der Leitung eines Richters. Beim Anblick der Anwesenden schnürte es Rory die Kehle zusammen.
Helen Ellis und Frankie Ortega saßen in der ersten Reihe der Zuschauerränge. Helen sah bleich und mitgenommen aus und drückte Rory gleich die Hand, als sie Platz nahm.
Ohne sein Kapuzenshirt wirkte Frankie geradezu schmäch tig. Über seinen rechten Arm zog sich ein Death-Metal-Tattoo, das die meisten Leute wahrscheinlich mit den Insignien eines Gangmitglieds verwechselten. Doch wegen der flammenden Gitarre war sich Rory ihrer Sache sicher. Er machte den Eindruck eines scheuen Fohlens, das beim ersten lauten Geräusch davonhüpfen würde. Er hob nur das Kinn zum Gruß.
Supercool. Aber das war Rory egal. Er hatte zusammen mit ihr überlebt, und jetzt war er hier. Sie packte ihn so fest an seinen knochigen Schultern, dass sie ihn fast von den Füßen gerissen hätte. »Ich bin so froh, dass alles in Ordnung ist bei dir.«
»Und bei dir auch.« Verlegen senkte er den Blick.
Judge Yamashita trug einen Peter-Pan-Kragen über ihrer Robe. Sie bedankte sich bei allen für ihr Erscheinen und erklärte, dass der Prozess gegen Jared Smith und Lucy Elmendorf ausgesetzt worden war. Ein neuer Richter musste be stimmt werden, um Judge Wielands Aufgaben zu übernehmen.
Hinter Rory fing Daisy Fallon leise an zu weinen.
Yamashita fügte hinzu, dass sowohl die Staatsanwaltschaft als auch die Verteidigung vorhatten, die Einstellung des Verfahrens zu beantragen. Daher hielt sie es für unwahrscheinlich, dass die anwesenden Geschworenen noch einmal erscheinen mussten, um Zeugenaussagen in diesem Fall anzuhören. Nach den gestrigen Ereignissen war eine Fortsetzung des Prozesses kaum denkbar. Vielmehr war damit zu rechnen, dass den Anträgen der Anwälte entsprochen und die Jury aufgelöst wurde.
Ihr Gesicht leuchtete warmherzig. »Sie haben ein schreckliches Trauma durchgestanden. Das Gericht ebenso. Ich möchte mich bei Ihnen bedanken für Ihr Engagement im Na men des Rechts. Danke, dass Sie auch heute diesen Weg auf sich genommen haben. Es ist Ihr Verdienst, dass unser Rechts system auch weiter funktioniert und nicht vor Gewalt und Anarchie in die Knie geht.«
Frankie starrte die Richterin an,
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