Die Zitadelle des Autarchen
Antwort und tippte dem Knaben auf die Schulter, wobei ich die Vision von Kindern in Flammen bekam. Ich hoffe, ich habe mich getäuscht.
Das war zwei Tage vor meinem Klimmzug zum Fenster gewesen. Der alte Medicus kam nicht wieder; ob er in Ungnade gefallen oder an einen anderen Ort gesandt worden war oder lediglich weitere Behandlungen für unnötig gehalten hatte, blieb mir verborgen.
Agia kam einmal in die Zelle; zwischen zwei von Vodalus’ bewaffneten Frauen stehend, spie sie mir ins Gesicht und schilderte mir die Qualen, die Hethor und sie ersonnen hatten, wäre ich erst wieder gesund und fähig, sie zu ertragen. Als sie geschlossen hatte, erklärte ich ihr ganz wahrheitsgetreu, daß ich all mein Lebtag an schlimmren Martern mitgewirkt hätte und ihr riete, einen Fachmann hinzuzuziehen, woraufhin sie schleunigst ging.
Danach blieb ich mehrere Tage lang zumeist allein. Jedesmal wenn ich erwachte, fühlte ich mich beinahe als andrer Mensch, denn in jener Einsamkeit war die Isolierung meines Denkens in den dunklen Schlafzeiten fast ausreichend, mir mein Persönlichkeitsgefühl zu rauben. All diese Severians und Theclas erstrebten die Freiheit.
Der Rückzug in die Erinnerung bot sich förmlich an; so kehrten wir im Geiste oft zurück zu jenen idyllischen Tagen, als Dorcas und ich gen Thrax zogen, zu den Spielen im heckenumstandenen Irrgarten hinter meines Vaters Villa und im Alten Hof und zu jenem Gang über die lange Adamnische Treppe zusammen mit Agia, die ich noch nicht als meine Feindin entlarvt hatte.
Oft vertrieb ich aber auch alle Erinnerungen und zwang mich zum Nachdenken, wobei ich zuweilen hin und her humpelte oder auch nur darauf wartete, daß wieder ein Insekt durch das Fensterchen hereinflöge, um ihm aus Kurzweil nachzustellen. Ich schmiedete Fluchtpläne, gleichwohl sich erst die Umstände ändern müßten, um Aussicht auf Erfolg zu haben. Ich grübelte über verschiedene Textstellen aus dem braunen Buch nach und versuchte, sie mit eigenen Erfahrungen in Verbindung zu bringen, um – soweit als möglich – eine allgemeine Theorie über menschliches Verhalten aufzustellen, die mir helfen könnte, käme ich je wieder frei.
Denn wenn der Medicus, ein hochbetagter Mann, noch immer dem Wissen nachjagen konnte, obwohl der Tod unmittelbar bevorstand, könnte so nicht ich, dessen Tod unmittelbar drohte, Trost finden in der Gewißheit, daß mein Tod noch keine Gewißheit war?
So überdachte ich das Verhalten der Zauberer und des Mannes, der mich vor der Hütte des kranken Mädchens angesprochen hatte, und vieler andrer Männer und Frauen, die ich gekannt hatte, um einen Schlüssel zu finden, der alle Herzen öffnen würde.
Ich fand keinen, der sich in wenigen Worten ausdrücken ließe: »Männer und Frauen verhalten sich so, weil sie …« Keines der Metallstückchen paßte – Machthunger, Gier nach Liebe, Bestätigungsdrang oder wildromantische Abenteuerlust. Allerdings entdeckte ich ein Prinzip, das der Primitivität, wie ich’s schließlich nannte, das meiner Meinung nach allgemeingültig ist und das Handeln, selbst wenn es kein Handeln auslöst, zumindest in seiner Form zu bestimmen scheint. Es ließe sich so formulieren: Weil die prähistorischen Kulturen so viele Chiliaden überdauert haben, haben sie unser Erbe dermaßen geprägt, daß wir uns verhalten, als herrschten die Umstände von damals noch heute.
Zum Beispiel ist die Technologie, die Baldanders einst ermöglicht hätte, alles Tun des Hetmans vom Uferdorf zu beobachten, nun seit Jahrtausenden nur mehr Staub; aber in den Äonen ihrer Existenz hat sie ihn in ihren Bann geschlagen, so daß sie wirksam bleibt, obgleich es sie nicht mehr gibt.
Gleichermaßen tragen wir alle in uns die Geister der längst verschwundenen Dinge, der verfallenen Städte und wunderbaren Maschinen. Die Geschichte, die ich einst Jonas in unsrem Kerker vorgelesen hatte, zeigte das eindeutig, und ich las sie nun in der Zikkurat abermals. Der Verfasser, der eines feindseligen Seeungeheuers im Sinne eines Erebus oder Abaia bedurfte, gab ihm, eingebettet in eine mythische Welt, ein Schiff als Haupt – wobei der übrige Körper unsichtbar unter Wasser blieb –, womit er es aus der protoplasmatischen Realität heraushob und zur Maschine werden ließ, welche die Rhythmik seines Geistes forderte.
Während ich mir mit derlei Mutmaßungen die Zeit vertrieb, erkannte ich immer mehr, daß dieser alte Bau Vodalus nur als vorübergehender Aufenthalt diente. Obgleich der
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