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Die Zitadelle des Autarchen

Die Zitadelle des Autarchen

Titel: Die Zitadelle des Autarchen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gene Wolfe
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Medicus, wie gesagt, nicht wiederkam und auch Agia nicht wieder erschien, hörte ich oft Leute durch den Korridor vor meiner Zelle rennen und vernahm hin und wieder ein paar Zurufe.
    Immer wenn ein solcher Lärm laut wurde, drückte ich das Ohr, das nicht unter dem Verband steckte, ans Türblatt; oft ahnte ich diese Geräusche auch voraus und hockte so eine ganze Weile vor der Tür, um ein paar Wortfetzen aufzuschnappen und so zu erfahren, was Vodalus vorhabe. Während ich horchte, mußte ich zwangsläufig an die Hunderte in unsrer Oubliette denken, die wohl nach mir gelauscht hatten, als ich ihr Essen zu Drotte brachte, und die wohl die Ohren gespitzt hatten, um Teile des Gesprächs zu hören, die aus Theclas Zelle in den Gang und somit in ihre eigenen Zellen klangen, wenn ich bei ihr zu Besuch war.
    Und wie stand’s mit den Toten? Offengestanden habe ich mich zuweilen selbst für beinahe tot gehalten. Werden die Toten nicht millionenfach in unterirdische Kammern gesperrt, die noch viel kleiner sind als meine Zelle? Es gibt keinen Bereich menschlichen Handelns, worin die Toten die Lebenden nicht um ein vielfaches übertreffen. Die meisten hübschen Kinder sind tot. Die meisten Soldaten, die meisten Feiglinge. Die schönsten Frauen und die gelehrtesten Männer – alle sind sie tot. Ihre Leiber ruhn in Kisten, Särgen, Sarkophagen, unter Steingewölben, überall unter der Erde. Ihre Geister spuken durch unsern Verstand – an unseren Gehirnschädel gepreßte Ohren. Wer kann sagen, wie aufmerksam sie lauschen, wenn wir sprechen, oder nach welchem Wort?
     

 
Vor Vodalus
     
    Am Morgen des sechsten Tages kamen zwei Frauen zu mir. Ich hatte in der Nacht sehr wenig geschlafen. Eine blutsaugende Fledermaus, wie sie in diesen nördlichen Urwäldern verbreitet sind, war durch das Fenster in meine Zelle eingedrungen, und obschon es mir gelungen war, den Vampir wieder hinauszutreiben und die Blutung zu stillen, war er, wohl vom Geruch meiner Wunden angelockt, immer wieder zurückgekommen. Selbst heute noch kann ich nicht die fahle Dunkelheit des diffusen Mondlichts sehen, ohne an den Vampir zu denken, der wie eine Riesenspinne kriecht und plötzlich aufflattert.
    Die Frauen waren ebenso erstaunt über mein Wachsein wie ich über ihren Besuch; es war frühester Morgen. Ich mußte aufstehen, und während die eine meine Hände fesselte, hielt mir die andre ihren Dolch an die Kehle. Sie fragte allerdings, wie meine Backe heile, und meinte noch, ich sei ein recht stattlicher Bursche gewesen, als ich hergebracht worden war.
    »Da war ich dem Tod fast so nahe wie jetzt«, gab ich ihr zur Antwort. Obgleich die Gehirnerschütterung, die ich mir beim Absturz des Fliegers zugezogen hatte, eigentlich schon verheilt war, hatte ich noch arge Schmerzen in Bein und Gesicht.
    Die Frauen brachten mich vor Vodalus; freilich nicht irgendwo in der Zikkurat, wie ich mehr oder weniger erwartet hatte, oder auf jene Terrasse, wo er mit Thea Audienz gehalten hatte, sondern auf einer Lichtung, die an drei Seiten von einem trägen grünen Wasser umsäumt war. Es dauerte ein paar Momente – ich mußte warten, bis er irgendeine andere Angelegenheit erledigt hatte –, bis ich erkannte, daß dieser Wasserlauf eigentlich nach Nordosten floß, wobei ich bisher noch nie nordostwärts strömendes Wasser zu Gesicht bekommen hatte; alle Flüsse liefen nach meiner bisherigen Erfahrung nach Süden oder Südwesten und mündeten in den südwestwärts fließenden Gyoll.
    Schließlich neigte mir Vodalus das Haupt zu, und ich wurde vor ihn geführt. Als er sah, daß ich mich kaum auf den Beinen halten konnte, hieß er meine Wächterinnen, mich vor seine Füße zu setzen, und schickte sie dann mit einem Wink zurück, bis sie außer Hörweite waren. »Dein Auftritt ist nicht ganz so beeindruckend wie derjenige, den du dir in den Wäldern bei Nessus verschafft hast«, sagte er.
    Ich pflichtete ihm bei. »Aber, Herr, ich komme jetzt genauso wie damals als Euer Diener. Wie auch bei unsrer ersten Begegnung, als ich Euren Hals vor der Axt gerettet. Wenn ich in blutigen Lumpen und mit gefesselten Händen vor Euch trete, so deshalb, weil Ihr so mit Euren Dienern verfährt.«
    »Gewiß ist’s auch nach meinem Dafürhalten eine kleine Übertreibung, dir die Hände ruhigzustellen.« Er lächelte fein. »Tut’s weh?«
    »Nein. Ich spüre nichts mehr.«
    »Trotzdem brauchen wir die Fessel nicht.« Vodalus erhob sich, zog ein schmales Messer und schnitt, indem er sich über

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