Die Zitadelle des Autarchen
er an den meinen anschloß, bis seine Lippen die Farbe von Blei angenommen hatten. Ich fragte den alten Medicus, woher er komme, und er antwortete offenbar in dem Glauben, ich stamme von der hiesigen Gegend: »Aus der großen Stadt im Süden im Tal des Flusses, der die kalten Lande entwässert. Ist ein längerer Fluß als der eure, der Gyoll, wenn auch nicht so reißend.«
»Du bist sehr gut«, sagte ich. »Habe noch nie von einem Arzt gehört, der so viel macht. Ich fühle mich schon gesund und möchte, daß du aufhörst, bevor der Junge stirbt.«
Der Greis kniff ihm in die Wange. »Wird sich rasch erholt haben – so schnell, daß er mir heut’ nacht schon wieder das Bett wärmen kann. In seinem Alter geht’s immer flugs. Nein, nicht was du denkst. Ich schlafe nur bei ihm, weil der nächtliche Atem der Jungen wiederbelebend auf die Alten wirkt. Weißt du, die Jugend ist eine Krankheit, und wir hoffen, ein bißchen angesteckt zu werden. Wie steht’s mit deiner Wunde?«
Nichts – nicht einmal ein Eingeständnis, das von einem perversen Verlangen, einen Anschein von Potenz zu wahren, hätte herrühren können – hätte mich so vollständig zu überzeugen vermocht als sein Leugnen. Ich sagte ihm die Wahrheit, daß nämlich meine rechte Wange taub sei bis auf ein krätziges, aber durchaus erträgliches Brennen, während ich mich fragte, welche seiner Pflichten dem armen Knaben am unliebsamsten sei.
Der Greis löste den Verband und trug wieder eine dicke Schicht jener stinkenden braunen Salbe auf, die er schon einmal angewendet hatte. »Ich komme morgen wieder«, erklärte er. »Wobei du, glaub’ ich, den Mamas hier nicht wieder brauchen wirst. Machst gute Fortschritte. Ihre Beglücktheit« (wobei er mit einer ruckartigen Kopfbewegung unverkennbar auf Agias Statur anspielte) »wird höchst zufrieden sein.«
Ich sagte möglichst beiläufig, ich hoffe, allen seinen Patienten gehe es so gut.
»Du meinst den Denunzianten, der mit dir hergebracht worden ist? Es geht ihm den Umständen entsprechend.« Er wandte sich beim Sprechen ab, damit ich sein besorgtes Gesicht nicht sähe.
Auf die Hoffnung bauend, ich könnte Einfluß auf ihn nehmen, um dem Autarchen zu helfen, lobte ich seine Kunstfertigkeit über alle Maßen und schloß mit der Anmerkung, daß es mir ein Rätsel sei, warum ein so tüchtiger Arzt mit solchem Gesindel gemeinsame Sache mache.
Er sah mich aus zusammengekniffenen Augen an und setzte eine ernste Miene auf. »Um zu lernen. Nirgendwo kann ein Mann meines Faches mehr lernen als hier.«
»Du beziehst dich auf das Leichenessen? Daran hab’ ich auch schon teilgenommen, auch wenn man mir davon nichts gesagt hat.«
»Nein, nein. Die Gelehrten – insbesondere diejenigen meines Faches – praktizieren dies überall und normalerweise mit bessren Ergebnissen, da wir wählerischer sind, was die Opfer angeht, und uns auf hochwertige Gewebe beschränken. Das Wissen, das ich anstrebe, läßt sich so nicht in Erfahrung bringen, weil keiner der jüngst Verblichenen es gehabt hat – vielleicht niemand es je gehabt hat.«
Er hatte sich gegen die Wand gelehnt und sprach offenbar sowohl zu einem unsichtbaren Zuhörer als auch zu mir. »Das sterile Wissen der Vergangenheit hat nur zur Ausbeutung der Welt und Vernichtung ihrer Bewohner geführt. Es war auf das bloße Verlangen gegründet, die Energien und materiellen Substanzen des Universums auszubeuten, ohne Rücksicht auf ihre Anziehung, ihre Antipathien und ihre Endbestimmung. Sieh!« Er streckte die Hand in den Lichtstrahl, der nun durch mein hohes, rundes Fensterchen einfiel. »Hier ist Licht. Du wirst sagen, es sei nichts Lebendiges, wobei du übersiehst, daß es mehr, nicht weniger ist. Ohne Raum einzunehmen, erfüllt es das Universum. Es nährt alles und nährt sich von Zerstörung. Wir behaupten, es zu beherrschen, aber vielleicht zieht es uns bloß als spätere, Nahrungsquelle heran? Kann es nicht sein, daß alles Holz nur wächst, damit es in Feuer aufgeht, und daß alle Männer und Frauen nur zum Feuermachen geboren werden? Ist es nicht möglich, daß unser Herrschaftsanspruch über das Feuer so absurd ist wie der Herrschaftsanspruch des Weizens über uns Menschen, weil wir den Boden für ihn bereiten und seinen fruchtbaren Verkehr mit der Urth pflegen?«
»Das hast du schön gesagt«, erwiderte ich. »Aber darum geht’s nicht. Warum dienst du Vodalus?«
»Solches Wissen läßt sich nicht ohne Experimentieren gewinnen.« Er lächelte bei seiner
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