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Die Zuckerbäckerin

Die Zuckerbäckerin

Titel: Die Zuckerbäckerin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Petra Durst-Benning
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Aufgabe als Gemeindevorstand übernommen. Täglich stand er an den Gräbern derVerstorbenen, um sie in die Arme Gottes zu übergeben. Nur vorübergehend sollte dieser Zustand sein, Niederecker hoffte jeden Tag auf die Nachricht, daß die Seuche endlich gebannt und Gertsch auf dem Weg der Gesundung sei.
    Doch nun war aus dem »vorübergehend« ein »ewiglich« geworden, und die Pregianzer standen wie eine verirrte Herde Schafe um das Grab ihres Anführers herum. Am verlorensten wirkte Niederecker selbst, auf dessen Schultern die fast unmögliche Aufgabe lastete, den Zurückgebliebenen Trost zu spenden.
    Vom anderen Ende des Lagers beobachtete Leonard den Zug der Pregianzer, die mit lautem Wehgesang in Richtung Friedhof wanderten. Zuvorderst ging Barbara, die Witwe, mit ihrem Sohn an der Hand. Mit hocherhobenem Kopf schritt sie voran. Die Konturen ihrer Gestalt waren gegen den dunklen Septemberhimmel scharf umrissen. Barbaras Anblick erinnerte Leonard an einen der Scherenschnitte, die von den fliegenden Buchhändlern mit ihren Bauchläden daheim in Stuttgart feilgeboten wurden.
    Mehr als vier Monate dauerte ihre Reise nun schon an, und noch immer war kein Ende in Sicht. Und obwohl Leonard sich wie alle anderen nichts sehnlichster wünschte, als endlich da anzukommen, wo ihr neues Zuhause wachsen sollte, so schreckte er gleichzeitig vor dem Gedanken zurück. Schon längst erschien ihm die Zukunft als Bauer nicht mehr so rosig wie zu Beginn der Reise. Die herben Landschaften mit ihren fremd anmutenden, spröden Gewächsen empfand er als unzugänglich und abweisend. Waren sie womöglich blind und unbedacht in das Abenteuer Rußland gestürzt? Was, wenn die russische Erde nichts hergab, was zum Leben taugte? Seine Ängste wurden von den neuesten Nachrichten geschürt, die sie von den russischen Lagervorstehern in erstaunlich gutem Deutsch erfahren hatten.Entgegen früherer Pläne, so hieß es, sei ein Großteil der bereits eingewanderten Schwaben nicht in Odessa geblieben, sondern hatten sich die Genehmigung vom Zaren geholt, nach Georgien Weiterreisen zu dürfen, besser bekannt als Transkaukasien. Wie ein Mensch freiwillig ins unwirtliche Georgien gehen wollte, war den Lagerverwaltern allerdings unverständlich. Während der Wintermonate waren die Wege dorthin unpassierbar. Schneelawinen hatten schon so manchen Reisenden in die Tiefe gerissen und für ewig begraben. Selbst im Sommer hatte man Mühe, mit Lasttieren auf die steinigen Pässe zu kommen. Und dann die Geschichten von Räubern und Überfällen! Nein, Transkaukasien mochte zwar über fruchtbaren Boden verfügen – trotzdem hätten keine zehn Pferde sie dorthin gebracht. Doch scheinbar hatten sich die Kolonisten weder von den guten Ratschlägen des Generals Ermolov in Odessa noch von denen Zar Alexanders von ihrem Vorhaben abbringen lassen, bis dieser letztendlich einwilligte. Selbst seine Ankündigung, den Kolonisten statt der versprochenen 60 Desjatinen Land aufgrund des besonders fruchtbaren georginischen Bodens nur 35 Desjatinen zu verleihen, hatte niemanden abgehalten. In diesem und im Jahr zuvor hatten sich fast fünfhundert Familien, aufgeteilt in zehn Scharen und mehr schlecht als recht von den Soldaten des Zaren geschützt, auf den Weg nach Tiflis gemacht. Leonard fragte sich, warum. Ihre Vorgänger mußte ja in Odessa wirklich Unerfreuliches erwartet haben!
    Dann dachte er wieder einmal an Michael. Wie lange noch würde er es in dessen Gesellschaft aushalten? Mittlerweile saß er manchmal stundenlang schweigend und in sich versunken da, was Leonard jedoch mindestens so unerträglich empfand wie sein sonst übliches Gejammer. Schon jetzt konnte er sich seine Zukunft als Nachbar von Michael genau vorstellen: Nach einem Tag harter Arbeit auf demFeld würde er sich abends Michaels Klagen anhören müssen. Darüber, daß die russischen Steine im Feld mindestens so beschwerlich auszuklauben waren wie die schwäbischen, daß das Saatgut nichts tauge, daß es geregnet habe oder auch daß es nicht geregnet habe, daß die Werkzeuge nichts taugten und so weiter. Im Geiste sah Leonard schon seinen Wein im Becher sauer werden. Aber was blieb ihm anderes übrig? Immer und immer wieder stellte er sich die gleiche Frage und kam doch zu keiner vernünftigen Antwort. Er hatte sich als Bauer um russisches Land beworben, nun mußte er

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