Die Zuckerbäckerin
über die Reling geschleudert und verschlungen hatte. Die anderen fünf Opfer waren durch ihre Krankheit bereits so geschwächt gewesen, daà sie der Gewalt der Nacht nichts mehr entgegenzusetzen hatten. Zudem waren zwei der Hauptsegel zerfetzt worden, und fast jeder hatte den Verlust eines oder mehrerer Gepäckstücke zu tragen. Mutlos und stumm wurde die Reise fortgesetzt.
Und doch war es Barbara bisher gelungen, mit zaghafter Zuversicht nach vorne zu schauen. Auch als das Fieber ausbrach und fast ein Drittel der Reisenden von der glühenden Hitze geschüttelt wurde, hatte sie ganz tief drinnen gewuÃt, daà ihre kleine Familie verschont bleiben würde. Woher sie diese Zuversicht nahm, konnte sie nicht sagen, religiöse Ãberzeugung war es jedenfalls nicht. Es war einfach so, daà Barbara eine gewisse Bevorzugung vom Schicksal erwartete, und bisher war diese Erwartung auch noch nie enttäuscht worden. Doch nun fühlte sie sich wie ein Schmetterling, der mit spitzen, dünnen Nadeln hinter einer Glasscheibe aufgespieÃt wurde.
Wieder lieà sie ihren Blick kreisen. Auch aus diesemGefängnis gab es kein Entrinnen. Die russischen Behörden waren unerbittlich: Sieben Wochen Quarantäne und keinen Tag weniger muÃten sie hier verbringen. Die Gefahr, daà die Einwanderer Seuchen mit sich brächten, sei zu groÃ, hatte man ihnen erklärt. So muÃten sie unter freiem Himmel ihr Lager aufschlagen und warten.
»Seuchen einschleppen!« Sie spuckte vor sich auf den Boden, als könne sie sich so von dem bitteren Geschmack in ihrem Mund befreien. »Die wenigsten werden dieses Lager lebend wieder verlassen.« Obwohl sie nicht gerade leise sprach, hörte niemand ihren Worten zu. Teilnahmslosigkeit hatte sich im ganzen Lager breitgemacht. Jeden Tag gab es neue Tote zu beklagen, und es waren bei weitem nicht mehr nur die Alten und Schwachen, die keine Kraft mehr zum Leben hatten. Erst vor drei Tagen war Barbara durch das Röcheln ihres Mannes geweckt worden. Ungläubig hatte sie an seine Stirn gegriffen und die trockene Hitze des Fiebers gespürt. Sofort hatte sie Josef, ihren Sohn, zum einzigen Brunnen im Lager geschickt, um Wasser für kühlende Umschläge zu holen. Zeit, ihrem Herrgott dafür zu danken, daà er wenigstens sie und Josef verschont hatte, blieb Barbara danach nicht mehr. Unermüdlich wechselte sie heiÃgewordene Lappen durch kalte aus. Hartnäckig und mit aufeinandergebissenen Zähnen versuchte sie, Peter ein paar Schlucke der brackigen Flüssigkeit einzuträufeln. Stunde um Stunde redete sie ihm zu, während sie innerlich sämtliche Flüche ausstieÃ, die sie kannte. Wie konnte ihr Mann sie so im Stich lassen? WuÃte er denn nicht, welche Todesängste sie ausstand? Mit eisernem Griff hielt sie seinen Kopf auf ihrem SchoÃ, während sie ihm aus einem kleinen Becher Wasser einflöÃte. Immer wieder kamen Leute zu ihr, um sich nach dem Befinden des Predigers zu erkundigen. Bewundernd und auch ein wenig überrascht registrierten sie Barbaras hartnäckige Pflege. Wo andere zu resignierenbegannen, kämpfte sie mit aller Macht gegen die Krankheit. War dies das gleiche Weib, das mit offenem Schurz den Burschen lange Blicke nachgeworfen hatte? Nun, in der elenden Enge des Lagers waren sie bereit, ihre Meinung über die Frau des Predigers, die so gar nicht zu ihm passen wollte, zu ändern.
Barbara, die wuÃte, was in den Köpfen der Leute vor sich ging, hätte am liebsten laut gelacht. Wie dumm die Menschen doch waren! Und wie leicht man sie durch bloÃe ÃuÃerlichkeiten an der Nase herumführen konnte. Doch sie brauchte ihre ganze Kraft, um Peter am Sterben zu hindern. »Ich kannâs nicht zulassen! So haben wir nicht gewettet. Den Himmel auf Erden hast du mir versprochen, doch alles, was ich bisher erlebt habâ, glich der Hölle!« zischte sie dem beinahe ohnmächtigen Mann zu. Doch in ihre Wut über sein Versagen â denn das war seine Krankheit in ihren Augen â mischten sich erste Zweifel. Hatte sie, Barbara, womöglich zum ersten Mal in ihrem Leben die falsche Wahl getroffen? Sie dachte an das kleine Dorf, in dem sie bis zu ihrem fünfzehnten Lebensjahr gelebt hatte. Immer war es ihr gelungen, unter ihren Geschwistern jemanden zu finden, der Barbara zuliebe auf sein Stück Brot oder Speck verzichtet hatte. Der lieber selbst fror, um dafür
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