Die Zuckerbäckerin
also russisches Land bestellen, mit seinem Bruder im Schlepptau. Die einzige Chance, möglichst viel Distanz zwischen sich und Michael zu bringen, war die, weiterzuwandern nach Georgien. Dorthin würde Michael ihm sicher nicht folgen. Aber Leonard schreckte davor zurück, denn jede Meile, die er zurücklegte, würde ihn weiter von Eleonore entfernen. Der Gedanke, daà sie ihm eines Tages folgen würde, war oftmals das einzige, was ihn davon abhielt, vor Wut und aufgestauter Unzufriedenheit laut aufzuschreien. Doch wie lange mochte das noch dauern? Mutlos griff er nach einem kleinen Kieselstein und warf ihn von sich weg. Dann legte er sich zurück und hoffte auf gnädigen Schlaf, in dem die quälenden Stunden des Tages ein wenig schneller vergingen als sonst.
Doch vor dem Schlaf kamen die Gedanken. Immer wieder dieselben Gedanken. An Eleonore. An die elendige Situation, in der er lebte. An Michael, der ihn wegen allem und jedem bedrängte und um Rat fragte. Nie konnte er ihn in Ruhe lassen! Dabei war er, Leonard, auch bei den anderen Reisenden inzwischen ein gefragter Mann. Vor der Reise hätte Leonard sich nicht vorstellen können, wie lange und ausdauernd und um welche Nichtigkeiten sich Menschen streiten konnten. Hier, wo die Leute so eng aufeinandersaÃen, waren Streitereien an der Tagesordnung, doch bisheute hatte Leonard sich nicht daran gewöhnt. Die ewigen Auseinandersetzungen um nichts und wieder nichts zehrten jeden Tag mehr an seiner Geduld. Mehr als einmal hätte nicht viel gefehlt, und er hätte sich selbst in einen Kampf verwickeln lassen, in dem sein Gegner von der Wucht seiner Fäuste sicher unangenehm überrascht worden wäre. Statt dessen fiel ihm immer wieder ungewollt die Rolle des Vermittlers zu. Den Menschen war es zur Gewohnheit geworden, Leonard um Hilfe zu bitten, wenn sie nicht mehr weiterwuÃten. »Wenn einer im Würfelspiel volltrunken fast sein ganzes Hab und Gut verspielt, kann dann am nächsten Morgen sein Weib kommen und alles wieder zurückfordern?« fragten sie ihn. Oder: »Wenn einer in Vidin zwei Ferkel gekauft, aber vergessen hat, auch Futter für sie mitzunehmen und ein anderer die Tiere wochenlang gefüttert hat, bis sie groà und fett geworden sind â wem gehören sie dann?« Immer wieder beteuerte Leonard, er sei nicht der Richtige, um solche Fragen zu klären. Was wisse er einfacher Bursche schon davon, was als Recht und was als Unrecht anzusehen sei? Die Leute sollten zum Kolonnenführer gehen, oder zu Gertsch, dem Prediger. Trotzdem vertrauten die Leute weiterhin lieber auf sein Urteil, das auf gesundem Menschenverstand gebaut war. »Wenn du dein Maul aufmachst, kommt nur halb soviel Mist dabei heraus wie bei allen anderen«, hatte erst gestern ein Schlossergesell ihm schulterklopfend bestätigt. Leonard blieb nichts anderes übrig, als sich mit seiner neuen Rolle abzufinden. Wenn er so dazu beitragen konnte, einen Teil der täglichen Reibereien schon im Keim zu ersticken, warum eigentlich nicht? So unangenehm, wie er nach auÃen hin tat, war ihm das Vertrauen der Leute schon lange nicht mehr, stellte er plötzlich erstaunt fest.
Der Schlaf wollte nicht kommen. Dafür spürte er plötzlich einen dunklen Schatten neben sich. Erstaunt blickte erauf. Barbara saà neben ihm. Sie hätte er wirklich nicht erwartet! Ihre Augen glänzten wie vom Regen nasse Kieselsteine.
»Ich muà mit dir reden. Jetzt. Sofort.«
Leonard zuckte mit den Schultern. Alles war besser als die ewige Eintönigkeit des nicht enden wollenden Tages. »Von mir aus.«
»Gut.« Sie blickte sich hastig um. »Aber nicht hier. Laà uns wohin gehen, wo wir ungestört sind.«
Er lachte. »Ungestört â das ist gut. Wo, bitte, soll das sein?«
Barbara hatte ihn schon am Arm gepackt, um ihn hochzuziehen. »Auf dem Friedhof ist jetzt bestimmt niemand mehr. Die Leutâ haben für heute die Nase voll von den Toten.«
Unwillig stakste Leonard hinter der Frau her. Er konnte sich um nichts in der Welt vorstellen, was Peter Gertschs Witwe von ihm wollte. Gleichzeitig war er jedoch von ihrer Bestimmtheit, ihrer Unbeirrtheit wie benommen. Barbara vermittelte den Eindruck, als habe sie keine Zeit zu verlieren. Und das hier im Lager, wo Zeit der schlimmste Feind eines jeden geworden war!
Der Friedhof war tatsächlich menschenleer. Die dunkle, aufgehäufte Erde der neu
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