Die Zuckerbäckerin
glitzernden Kreis der Schauspieler aufhalten zu dürfen. Und so sollte es vorerst auch noch bleiben. Denn unter diesem Deckmantel war die Möglichkeit am gröÃten, eines Tages etwas über Melias geheimnisvollen Liebhaber herauszufinden.
23
N ach den anstrengenden Neujahrsfeierlichkeiten hatte Maria Feodorowna sich in ihre Suite zurückgezogen, um ein wenig zu ruhen. BlaÃblonde Wintersonne fiel durch die kahlen Wipfel der Bäume bis ins Fenster und verströmte eine schwache Wärme. In zwei Tagen wollte die Königinmutter abreisen. Müde lehnte sie sich auf der Chaiselongue zurück, um von dort aus ihrer Zofe Anweisungen beim Packen der vielen Kisten und Koffer zu geben. Während unter Ludmillas geschickten Händen ein Ballkleid nach dem anderen zwischen dicken Bögen Seidenpapier verschwand, konnte sie sich schon jetzt eines Anfalls von Sentimentalität nicht erwehren. Das dunkelbraune Samtkleid und die schwarze Fuchsstola hatte sie bei ihrer Ankunft getragen. Und das da, das blaugrüne, am Weihnachtsabend! Wie glockenklar die beiden Buben gesungen hatten! Und wie liebevoll Alexander und Peter mit der kleinen Marie umgingen! Katharina war nicht nur eine gute Landesmutter, sondern auch eine vorzügliche Mutter für ihre eigenen Kinder. Und bald sollte Marie noch ein Geschwisterchen bekommen. Ach, wenn sie Katharina in dieser Zeit nur beistehen könnte! Was gab es Schöneres, als einen Säugling im Arm zu halten, noch dazu, wenn es der eigene Enkel war? Wäre Katharinas Niederkunft für April oder Mai vorausgesagt worden, hätte sie sich vielleicht überreden lassen, ihren Besuch so lange auszudehnen. Aber Juni? Um nichts in derWelt wollte sie dem jungen Königspaar so lange zur Last fallen. Und schlieÃlich hatte sie noch andere Kinder. Alexander würde ihre Rückkehr nach RuÃland sicherlich schon herbeisehnen. Sie nahm ihm immerhin viele lästige Repräsentationspflichten ab!
Das Klopfen an ihrer Zimmertür unterbrach ihre Gedankenwanderungen.
»Entschuldigt, verehrte Tante, daà ich so einfach und ohne Voranmeldung bei Euch hineinschneie.« Selbst in dieser für Wilhelm nicht alltäglichen Situation hielt er seinen Rücken so steif wie der preuÃischste aller Soldaten, und seine Miene zeigte keinerlei Anzeichen von Unsicherheit. Lediglich die roten Flecken auf seinen Wangen verrieten, daà dieser spontane Besuch bei seiner Schwiegermutter ihn einige Ãberwindung gekostet haben muÃte.
Maria Feodorowna war sich nicht klar darüber, ob sie sich über Wilhelms Besuch freuen sollte. Obwohl sie ihn gern mochte, ging ihr in seiner alleinigen Gegenwart meist sehr schnell der Gesprächsstoff aus. So herzlich wie nur möglich versicherte sie ihm jedoch, daà sein Besuch keinesfalls ungelegen käme und sie sich im Gegenteil darüber freue, vor ihrer Abreise noch eine Gelegenheit zu einem kleinen Plausch mit ihrem Schwiegersohn zu bekommen. Nachdem sie sich auf der kleinen Sitzgruppe am Fenster niedergelassen hatten, entstand eine kurze Stille.
»Nun, verehrter Wilhelm, was sagst du zu Katharinas Vorliebe für das Gedankengut dieses Herrn Pestalozzi?«
Verdutzt schaute Wilhelm auf. »Pestalozzi? Ist das einer der Brüder mit der Kunstsammlung?«
Maria Feodorowna lachte. »Ich sehe, Ihr nehmt es mit der Gewaltenteilung wirklich sehr ernst. Pestalozzi ist derjenige, der die Meinung vertritt: Der Arme muà zurArmut erzogen werden. Nach diesem Grundsatz hat Katharina ihre Beschäftigungsanstalten für Kinder ausgestattet. Ein völlig neuer Gedanke, nicht wahr?«
Wilhelm zuckte mit den Schultern. »Wie Ihr selbst sagtet, gehören alle Bereiche der Wohltätigkeit zu Katharinas Aufgabengebiet, welches sie sehr pflichtgetreu â und, wenn ich das sagen darf â mit einem hohen Aufwand an Zeit betreut.«
Damit war dieses Thema erschöpft. Wieder einmal fiel Maria Feodorowna auf, wie wenig Visionen Wilhelm hatte. Wie anders war da doch Alexander, ihr Sohn! Während jener sich als »Mitglied einer neuen Generation« bezeichnete, die lernen muÃte, mit den rasenden Veränderungen ihrer Zeit fertig zu werden, fehlte Wilhelm dazu jede Phantasie. Nicht einmal im Gespräch gelang es ihm, neue Wege zu beschreiten, geschweige denn, im wahren Leben nach den Sternen zu greifen! Dabei hatte die Menschheit nach einer Ãra von absolutistischen Herrschern doch gerade Führer
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