Die Zuckerbäckerin
der Pregianzer-Gemeinde auszufüllen, hatte vor kurzem eine seltsame Andeutung gemacht. Ob Barbara krank sei, hatte er wissen wollen, und konnte Leonard dabei nicht in die Augen schauen. Nein, hatte Leonard geantwortet und gefragt, wie Niederecker auf diesen Gedanken käme? Doch dieser hatte nur mit den Schultern gezuckt und es plötzlich sehr eilig gehabt, den Laden zu verlassen. Im Türrahmen hatte er sich nochmals umgedreht und gesagt, er sei jederzeit da, wenndie Plieningers Hilfe oder auch ein offenes Ohr brauchten. Für einen kurzen Moment hatte Leonard geglaubt, der Mann spiele auf die unterschlagenen Spendengelder an. Doch Niedereckers arglose, fast schon verlegene Miene sprach dagegen, und so hatte Leonard den Vorfall schnell wieder vergessen.
Mit den müden Schritten eines alten Mannes schloà er auch noch die Tür zum hinteren Teil der Hütte ab, holte Wodkaflasche und Becher hervor und goà sich einen kräftigen Schluck ein. In der Stille und Dunkelheit seines Geschäftes lieà er den quälenden Geistern in seinem Kopf freien Lauf:
Eigentlich hätte er allen Grund gehabt, mit sich und seinem Leben zufrieden zu sein. Der Krämerladen war von Anfang an ein Erfolg gewesen. Weder hatte es ihnen Mühe bereitet, die geeignete Hütte dafür zu finden, noch war es besonders schwierig gewesen, Waren zu beschaffen. Hier gab es einen, der Besen herstellte und diese gerne für ein paar Kopekchen an sie weiterverkaufte. Da gab es einen Sattler, der neben Flickarbeiten auch ganze Sättel herstellte und froh über einen regelmäÃigen Abnehmer war. Ãberhaupt: Handwerker gab es wirklich genug! Korbmacher, Schmiede, Sattler, EisengieÃer, selbst Schneider und Schuhmacher waren in genügender Anzahl in Odessa und den umliegenden Dörfern ansässig. Die schwäbischen Einwanderer staunten nicht schlecht, als sie dies feststellen muÃten. So manchem aus ihren Reihen wurde damit ein gehöriger Strich durch die Rechnung gemacht â hatte er doch damit gerechnet, wegen seines Könnens überall mit offenen Armen empfangen und so binnen kurzer Zeit ein reicher Mann zu werden! Statt dessen muÃten viele gelernte württembergische Handwerker zu Aushilfslöhnen bei ansässigen Meistern arbeiten â unterbezahlt, ausgenutzt und unglücklich.
Im Gegensatz zu ihnen konnte Leonard sich nichtbeklagen, denn Barbara hatte mit ihrer Idee recht gehabt. In ganz Carlsthal gab es keinen Laden, in dem es all das zu kaufen gab, was die Einwanderer und andere Bewohner zum Leben brauchten. Alles muÃte von den Leuten mühsam zusammengetragen werden. Und da viele auch nach Jahren in der neuen Heimat immer noch nicht die russische Sprache beherrschten, waren diese Einkäufe nicht einfach für sie. Nicht ahnend, daà das deutsche Wort »Pfund« dem russischen »Pud« zwar sehr ähnelte, aber eine völlig andere MaÃeinheit war, verlangte einer beim russischen Getreidehändler »ein Pfund« Weizensamen und stand dann hilflos da, als der Mann ihm Sack um Sack â insgesamt vierzig Pfund â daherbrachte. Wie hätte er auch wissen sollen, daà er, um ein Pfund zu bekommen, ungefähr einhundert Solotnik hätte verlangen sollen, lamentierte er abends bei seinen Nachbarn, die alle schon ähnliches erlebt hatten.
Statt nun ihre Einkäufe einzeln in der Stadt, bei Handwerkern und bei den Bauern in der nahen und weiteren Umgebung zu tätigen, brauchten die Leute jetzt nur noch in ein einziges Geschäft zu gehen. »Leonards« stand in groÃen, deutschen Buchstaben auf dem Schild geschrieben, welches über der Eingangstür hing. Das Schild war ebenfalls Barbaras Idee gewesen. Bei dem Namen würde keiner auf den Gedanken kommen, das Geld dazu sei anders als mit ehrlichen Mitteln zusammengekommen, hatte sie gemeint. Nach kurzem Ãberlegen und einigen Skrupeln hatte Leonard eingewilligt und als erstes ein viereckiges Stück Blech und weiÃe und rote Farbe gekauft. Nachdem er mit viel Mühe groÃe rote Buchstaben auf den weiÃen Grund gepinselt hatte, hatten sie das Schild unter viel Gelächter gemeinsam aufgehängt â er auf der Leiter und Barbara mit allen möglichen Kommentaren vom Boden her. Wenn er es recht überlegte, war das einer der ganz wenigen Augenblicke gewesen, in denen er mit seinem Weib glücklich gewesen war. Woran esaber lag, daà sie nicht einträchtig
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