Die Zufalle des Herzens
okay?«
Alders Augenbrauen sanken nach unten. »Du siehst nicht, was ich sehe«, sagte sie leise.
»Stimmt«, sagte Dana. »Aber du siehst auch nicht immer, was ich sehe. Und manchmal sehen wir gerade die Menschen, die uns am nächsten sind, nicht so klar wie andere Dinge. Selbst du nicht.« Und sie streckte die Hand aus, um leicht an Alders zweifarbigem Haar zu zupfen. »Wenn du das Schwarze abschneiden lassen würdest, hättest du einen richtig pfiffigen Kurzhaarschnitt. Vielleicht erlaubst du ihr ja, morgen mit dir zum Friseur zu gehen?«
Alder zuckte die Achseln, sagte aber nicht Nein.
Als Dana in dieser Nacht auf den Schlaf wartete, bemüht, Connies Zehenzucken und Deckezerren zu ignorieren, wünschte sie sich zum hunderttausendsten Mal, die Kinder wären da und müssten ins Bett gebracht werden. Dafür zu sorgen, dass sie sich in die heimliche Sicherheit ihrer Bettdecken kuschelten, hatte etwas, was ihre eigene Besorgnis milderte. Der Anblick ihrer kleinen Körper, die den Tag losließen und sich am Schlaf festhielten, hatte in manchen Nächten die Schönheit eines Balletts.
Ob sie ihnen wohl fehlte? Sie riefen jeden Abend an, kurze aufgeregte Gesprächsfetzen über die diversen Attraktionen (»Space Mountain drei Mal hintereinander!«) und das Hotel (»Micky Maus-Seife – ich hab welche für dich aufgehoben«). An diesem Abend hatte Dana Morgan ein flüchtiges »Wie geht es dir ?« zugeflüstert. »Kommst du überhaupt zum Schlafen?«
»Ja, es ist komisch. Ich glaube, ich bin richtig müde. Gut müde, nicht so überdreht müde«, hatte sie gesagt. »Und wie geht’s dir ?«
»Mir geht’s prima, mein Schatz«, hatte Dana gelogen. »Tante Connie ist hier, und Thanksgiving feiern wir alle zusammen.« Sie hoffte, dass dieser letzte Teil stimmte.
»Tante Connie? Ist sie noch da, wenn wir wiederkommen? Sie ist so lustig!«
Connie schlug gerade auf ihr Kopfkissen ein, so als schlüge es zurück, als Dana sagte: »Morgan hofft, dass du noch hier bist, wenn sie wiederkommt.«
»Boh!«, sagte Connie und ließ den Kopf auf das besiegte Kissen plumpsen. »Ich hab immer gedacht, ich würde ihr irgendwie Angst machen.« Durch die angelehnte Schlafzimmertür fiel das Flurlicht herein und tauchte eine Seite ihres Gesichts in einen gedämpften Schimmer. Ganz entspannt lagen sie da, und ihre Stille neigte sich dem Schlaf zu. Doch dann murmelte Connie: »Denkst du schon mal an Dad?«
Dana kam sich vor, als hätte sie einen unsichtbaren Elektrozaun berührt. »Ähm, Dad? Ein bisschen …« Sie stockte. »Und du?«
»Zurzeit andauernd. Vor allem denke ich darüber nach, wie ich verhindern kann, so zu werden wie er.«
»Was? Du bist ganz anders als er, Connie! Das einzige Mal, dass ich dich am Boden zerstört erlebt habe, war, als du mit Alder schwanger aus Europa zurückkamst. Und kaum war sie geboren, war das vorbei.«
»Mmm.« Schwache Zustimmung. »Wenn es aber noch einmal passiert? Dann wird es garantiert kein Baby geben, das mir eine Rettungsleine zuwirft.« Connie drehte sich auf den Rücken, und Dana musterte aus der Sicherheit des Schattens heraus ihr scharfes Profil. »Im Übrigen sollten Kinder nicht als Rettungsleine herhalten.« Dabei schielte Connie zu Dana hinüber.
»Ich sehe dich einfach nicht als … nicht so.«
»Schon, aber es ist hier drin, wartet vielleicht in einer Kurve meiner DNA . In deiner auch.« Kurz darauf schüttelte Connie den Kopf. »Wahrscheinlich doch nicht. Im Gegenteil, du bist chronisch optimistisch.«
»Ich glaube, keine von uns ist anfällig dafür, wie er zu enden.«
Connie schmunzelte. »Weißt du, woran ich die Tage denken musste? An Mom, die überall Wasser reintat. Leere Tomatensoßengläser, Shampooflaschen – erinnerst du dich daran? Sie hasste es, einen Rest in der Flasche drinzulassen. Es bleibt immer etwas übrig, sagte sie, selbst wenn es so aussieht, als wäre nichts mehr drin. So konnte sie tagelang die letzten verwässerten Tropfen Geschirrspülmittel aus einer Flasche herausspülen.«
Dana wusste genau, wovon sie sprach. »Sie hat dir ein Gefäß in die Hand gedrückt und gesagt ›Lass da mal ein paar Tropfen Wasser reinlaufen‹.«
»Du bist auch so«, sagte Connie. »Du bist so eine Wiederauffüllerin.«
Das klang beleidigend, da aber die Hälfte von dem, was aus Connies Mund herauskam, nur Sticheleien waren, konnte Dana sich nicht ganz sicher sein. »Findest du mich geizig?«
Das Auge, das Dana sehen konnte, verdrehte sich leicht gereizt.
Weitere Kostenlose Bücher