Die Zufalle des Herzens
den Armlehnen verblichen war. »Mrs Stellgarten«, fing er an.
»Bitte nennen Sie mich Dana«, sagte sie und bemerkte, dass ihr in all den Jahren nie der Gedanke gekommen war, ihm das Recht zu dieser Vertrautheit einzuräumen. Erst jetzt, mit der Aussicht auf etwas offenkundig Unangenehmes, bezog sie ihn in den Kreis ihrer Freunde ein, für den unwahrscheinlichen Fall, dass ihr das einen gewissen Schutz gewähren könnte … vor was auch immer.
Die glatte Haut um seine braunen Augen herum legte sich in freundlich wirkende, kleine Fältchen. »Gut, dann also Dana.« Er holte Luft. »Also. An Morgans Zahnschmelz sehe ich eine Veränderung, die mir etwas Sorgen macht.« Ehe er fortfuhr, schien er auf ihr Einverständnis zu warten, vielleicht wollte er ihr aber auch einen Moment Zeit geben, sich vorzubereiten.
»Aha …«, sagte sie.
»Zahnschmelz ist so ähnlich wie Glas – sehr glatt, vor allem in Morgans Alter. Die bleibenden Zähne sind alle noch ziemlich neu, müssten also in recht gutem Zustand sein. Was ich bei Morgan sehe, ist eine beginnende Erosion, insbesondere auf der Rückseite der Schneidezähne und den Innenseiten der Backenzähne.« Wieder hielt er inne. »Dieses Erosionsmuster – das passt zum Erbrechen, Dana.«
Für einen ganz kurzen Augenblick weigerte sich Danas Gehirn, ihn zu verstehen. Erbrechen , beschwichtigte es sie, Zeug loswerden, das man nicht brauchte, das war doch gut, oder? Doch dann kam es ihr allmählich zu Bewusstsein. Morgan wurde anscheinend etwas los, was sie brauchte.
»Könnte es einen anderen Grund geben für dieses … Muster?«, fragte Dana knapp, bemüht, die Panik einzudämmen, die in stetem Fluss in ihre Brust sickerte.
»Eine sehr vernünftige Frage.« Er nickte. »Ständiges Saugen an etwas Saurem wie zum Beispiel Zitronen oder das Kauen klebriger Bonbons verursachen den Abbau von Zahnschmelz.«
Morgan mochte Zitronen nicht, und Schokolade war ihr lieber als klebrige Bonbons. In diesem Moment jedoch bedeutete die Tatsache, dass etwas anderes – irgendetwas anderes – die Ursache sein könnte, eine Erleichterung.
»Dana«, sagte er freundlich. »Süßigkeiten bauen den Schmelz an ganz bestimmten Stellen ab, hauptsächlich an der Zahnkrone. Und Zitrone führt in der Regel zur Erosion an den Zahnvorder- und nicht den Zahninnenseiten. Es war aber keins von beiden.«
»Das wüsste ich doch«, beharrte Dana, die verzweifelt versuchte, die Panik zu verbergen, die jetzt wie ein Sturzbach ihren Kopf erfüllte. In einem gleichmäßigen Fluss presste sie die Worte durch ihre Lippen. »Ich wüsste ganz bestimmt, wenn sie … das … machte.«
»Sie sind eine sehr besorgte, gewissenhafte Mutter. Das sieht ein Blinder. Und Mädchen im Teenageralter können unglaublich verschlossen sein. Mit meinen hatte ich auch zu kämpfen, das können Sie mir glauben.«
Dr. Sakimoto war Vater? Wie an einen Rettungsring klammerte sich Dana an diese Ablenkung. »Wie alt sind sie?«
»Ich habe zwei Töchter – eine im zweiten Collegejahr und eine an der medizinischen Fakultät.«
»Das ist ja wunderbar! Welche Fachrichtung schlägt sie denn ein?«
»Noch unentschieden«, sagte er. »Dana, wir müssen darüber nachdenken, wie wir Morgan dazu bringen, mit dem Erbrechen aufzuhören. Ich kann Ihnen eine Liste mit Informationsquellen geben …«
Erbrechen . Dieses Wort würde für sie nie mehr so klingen wie vorher. »Nein«, sagte sie, unfähig, noch irgendeine weitere Information aufzunehmen. »Im Moment nicht.«
Es klopfte an der Tür, und Maries leicht erhobene Stimme sagte: »Morgan ist jetzt fertig.« Dana schnellte von dem Schlechte-Nachrichten-Stuhl hoch und stürzte geradezu zum Ausgang.
Auf der Heimfahrt klappte Morgan im Auto die Sonnenblende mit dem Schminkspiegel herunter und fuhr sich mit der Zunge über die Zähne. »Ich finde es einfach toll, wenn sie alle glatt und sauber sind«, sagte sie. »Es ist, als dürfte man mit ganz neuen Zähnen noch mal von vorne anfangen.«
Darfst du aber nicht , hätte Dana gerne gesagt. Der Körper, in den du geboren wurdest, ist der, in dem du sterben wirst . Während sie mit ihrer möglicherweise bulimischen Tochter nach Hause fuhr, wurde Dana bewusst, dass sie sich nicht länger der Vorstellung hingeben konnte, eines Tages mit einem hübscheren Körper wach zu werden. Einen zweiten Versuch gab es nicht. Ruinierte Zähne würden nie wieder neu, der Körper einer Fünfundvierzigjährigen wäre nie wieder jung. Eine gescheiterte Ehe würde
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