Die Zuflucht
sprach sie weiter.
» Wollten Sie einmal einer werden?«
Ihre Antwort überraschte mich. » Ich bin mit sechzehn von meinen Eltern ausgezogen und habe Edmund geheiratet. Ich kann hervorragend nähen und ganz gut kochen, aber Bücher waren nie etwas für mich.«
» Für mich auch nicht«, murmelte ich und stand auf. » Darf ich Tegan besuchen?«
Sie lächelte. Anscheinend war sie froh, nicht den ganzen Nachmittag lang mein säuerliches Gesicht beim Nähen ertragen zu müssen. » Natürlich, Zwei. Aber sei bis zum Abendessen wieder da.«
Anfangs hatte sie mich nicht so genannt. Zwei war kein Name für ein Mädchen, zumindest keiner, den sie kannte. Aber als ich ihr die mit Blut befleckte Karte zeigte und ihr die Bedeutung erklärte, hörte sie auf, mich zu drängen, mir einen neuen Namen auszudenken.
Ich spielte mit dem Kärtchen in meiner Rocktasche, einem Erinnerungsstück an die Enklave und die Namensgebungszeremonie, auf der ich meine Narben erhalten hatte. » Werde ich. Danke.«
Dann rannte ich zur Tür und lief zum Haus des Doktors. Tegan war gerade im Behandlungszimmer und reinigte die Instrumente, als ich ankam.
Sie lächelte, widmete sich aber weiter ihrer Arbeit.
Wortlos stellte ich mich neben sie und half ihr. Saubermachen war keine schwierige, aber eine sehr wichtige Aufgabe, vor allem in dem Beruf ihres Pflegevaters.
Als wir fertig waren, fragte Tegan: » Was führt dich hierher?«
» Ich wollte ein bisschen reden«, erwiderte ich.
» Worüber?«
» Wie sich die Dinge bei dir entwickelt haben.« Ich hätte etwas taktvoller fragen können, aber ich fühlte mich verantwortlich für sie. Immerhin war ich es gewesen, die sie aus den Ruinen gerettet und hierhergebracht hatte. Ich hatte ihr eine Waffe gegeben, und sie war im Kampf verletzt worden, wäre beinahe gestorben, weil ich sie nicht richtig unterrichtet hatte. Eine Keule in der Hand machte noch keine Jägerin.
» Du willst also wissen, wie’s mir geht.« Ihre Augen blitzten belustigt. » Das ist süß von dir.«
» Kümmern sich die Tuttles genügend um dich?«
» Sie sind wunderbar. Doc zu helfen gibt mir das Gefühl, einen wichtigen Beitrag zu leisten, eine Daseinsberechtigung zu haben.«
» Die hast du.« Ich hatte nie daran gezweifelt.
» Ich kann dich beruhigen. Wir haben hier genau das Richtige gefunden, und ich werde dir ewig dankbar sein, weil du mich aus den Ruinen und vor allem aus den Klauen der Wölfe befreit hast.«
Ich hatte sie schon immer danach fragen wollen, also ergriff ich die Gelegenheit. » Haben die Wölfe alle ihre Frauen so schlecht behandelt?«
Gut möglich, dass sie dumm und verwildert genug waren, um nicht zu wissen, dass sie mit jedem Schlag auch den ungeborenen Balg im Bauch einer Zeugerin verletzten. Nur weil wir in College das begriffen hatten, musste für die Banden noch lange nicht dasselbe gelten.
Tegans Atem stockte, und ihre Augen verfinsterten sich wieder. » Die Mädchen, die schon bei ihnen zur Welt gekommen waren, sträubten sich nicht gegen ihre Rolle. Sie versuchten nicht wegzulaufen, also wurden sie auch nicht bestraft.«
Ich nickte. » In der Enklave hätte eine Zeugerin sich ihrer Aufgabe auch nicht widersetzt.«
» Sie verfolgen mich in meinen Träumen«, sagte Tegan leise. » Die beiden Welpen, die ich verloren habe. Ich wollte jedes Mal nur weg, wollte sie beschützen und aufziehen, wie meine Mutter es getan hatte. Stattdessen haben sie mich erwischt und so lange geschlagen, bis…« Ihre Stimme versagte, und Tegan ballte die Hände zu Fäusten. » Ich weiß, warum sie es getan haben: Sie wollten mich brechen, damit ich mich nicht mehr wehre.«
» Sie hätten dich nicht schlagen sollen«, erwiderte ich. » Es hätte andere Möglichkeiten gegeben, dich festzuhalten, ohne die ungeborenen Bälger zu gefährden.«
Tegan wischte sich eine Träne von der Wange. » Du meinst, bei euch hätten sie mir nichts getan?«
Sie wollte hören, dass ich aus einer besseren Welt kam als Pirscher. Als ich Tegan traf, war ich absolut sicher, in College würde jeder hart bestraft, der einer Frau so etwas antat. Aber das war ein purer Reflex gewesen. Ich wollte nur das Beste von meiner Enklave denken, doch mit etwas Abstand war mir klar geworden: Sicher waren nur die gewesen, die in College geboren waren und sich blind an die Regeln hielten. Ich musste an das Schicksal von Bleich und der Schafferin namens Banner denken. Anfangs war ich eifersüchtig auf sie gewesen, weil sie Bleich so nahestand, doch
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