Die Zuflucht
Anscheinend hatte ich mich getäuscht.
» Du bist ja über und über mit Blut beschmiert«, sagte Oma Oaks mit einem unterdrückten Schluchzen. Ihre Augen füllten sich mit Tränen, und Edmund tätschelte ihr hilflos den Rücken.
» Mir ist nichts passiert.« Ich verstand nicht, was sie hatte.
» Umarm sie«, flüsterte Draufgänger mir ins Ohr. » Sie hat schon mal ein Kind verloren, und jetzt, da sie dich adoptiert hat…«
Adoptiert. Schon wieder ein neues Wort. Ich wusste nicht, was es bedeutete, aber es schien mir etwas damit zu tun zu haben, wie sie zitternd die Hände nach mir ausstreckte und wieder zurückzog, als wüsste sie nicht, wohin mit ihnen. Ich trat auf sie zu und legte ihr unsicher eine Hand auf die Schulter.
Frauen sind eben sehr emotional, sagte Edmunds Blick, und ich hatte zum ersten Mal das Gefühl, dass wir uns verstanden. Falls die Frauen in Erlösung alle so waren, würde ich nie eine von ihnen werden, ganz egal wie viele Kleider Oma Oaks für mich nähte.
» Sie beruhigt sich gleich wieder«, murmelte Edmund.
» Ich habe mich schon beruhigt«, keifte seine Frau durch ihre Tränen. » Wir müssen nach Hause und dich waschen. Hoffentlich werden deine Sachen jemals wieder sauber.«
Das konnte ich nachvollziehen: Unten redeten die Leute auch manchmal von Dingen, die gar nichts mit dem zu tun hatten, was sie eigentlich beschäftigte. Es schien ein typisch menschliches Verhaltensmerkmal zu sein. Ohne weitere Nachfragen folgte ich meinen Pflegeeltern zu ihrem Haus und warf Bleich noch einen letzten Blick über die Schulter zu. Mr. Jensen war nicht gekommen. Es schien ihn nicht zu interessieren, ob sein neuer Gehilfe überlebt hatte oder nicht. Das war nicht fair. Schon gleich gar nicht, wenn ich sogar von zwei Menschen abgeholt wurde.
» Wartet«, sagte ich.
Edmund blickte mich verärgert an, als fürchtete er, das Abendessen zu verpassen. » Was ist los?«
» Kann Bleich mit uns essen?«
Oma Oaks wirkte höchst erstaunt, allerdings nicht, weil ich Bleich mitnehmen wollte. » Aber natürlich. Deine Freunde können dich besuchen, wann immer du willst. Unser Haus ist jetzt auch dein Haus.«
Bis zum heutigen Abend hatte ich gedacht, sie hätte mich nur aus Pflichtgefühl aufgenommen, als Almosen sozusagen. Ich hatte nicht geglaubt, dass ich ihr wirklich wichtig war. Warum auch? Ich war kein normales Mädchen, niemand, den sie sich freiwillig als Tochter ausgesucht hätte. Doch der Ausdruck auf ihrem Gesicht war eindeutig: Sie hatte sich Sorgen um mich gemacht. Das war etwas Neues in meinem Leben. Ich war Jägerin. Wenn ich von einer Patrouille nicht zurückkehrte, hieß das, dass ich meine Pflicht erfüllt hatte. Mehr nicht.
Mir wurde warm im Bauch, und ein Kribbeln breitete sich bis in meine Fingerspitzen aus. Aus einem spontanen Impuls heraus gab ich Oma Oaks eine kurze Umarmung, wie ich es bei den anderen Mädchen gesehen hatte, und sie schaute mich verdutzt an.
Oma Oaks hatte mich nicht einmal gezeugt, und ich bezweifle, dass das Mädchen, das mich Unten zur Welt gebracht hatte, auch nur einen Gedanken an meine Sicherheit verschwendet hätte. Die Gesetze der Enklave verboten jede emotionale Bindung zwischen Zeugern und ihren Nachkommen. Bleich hatte beide Eltern verloren, und zum ersten Mal glaubte ich, seinen Verlust ansatzweise nachvollziehen zu können.
Ich fuhr herum und rannte zurück zum Tor, wo Bleich immer noch allein herumstand. » Komm mit. Du kannst bei uns essen.«
Er blickte an seinen dreckigen, blutverschmierten Kleidern herab und schüttelte den Kopf. » Ich kann nicht.«
» Wasch dich, zieh dich um, und dann komm. Bitte.«
Es war das letzte Wort, das ihn überzeugte. Ich sah es in seinem Gesicht, denn eigentlich wollte er es auch. Er fürchtete sich nur aus irgendeinem Grund davor.
Pirscher beobachtete uns mürrisch, aber ich konnte nicht rückgängig machen, wie ich mich ihm gegenüber verhalten hatte. Ich konnte es nur in Zukunft anders machen. Und ich wollte Bleich. Ich würde mich immer für ihn entscheiden.
» In Ordnung«, sagte Bleich schließlich. » Mr. Jensen wird nichts dagegen haben.«
Ich hörte noch etwas anderes aus seinen Worten heraus: Der Mann, der ihn aufgenommen hatte, interessierte sich nicht für ihn. Er wollte Bleich nur als billige Arbeitskraft. Ich hatte Glück gehabt, und vielleicht konnte ich dieses Glück, um das ich nicht einmal gebeten hatte, mit ihm teilen. Mit Bleich, der so sehr vermisste, was er verloren hatte.
Ich hauchte
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