Die Zuflucht
ihm einen Kuss auf die Wange. Es war mir egal, wenn die Leute es sahen. Sollten sie denken, was sie wollten.
Bleich berührte sein Gesicht mit dem gleichen verwunderten Ausdruck, den ich zuvor bei Oma Oaks gesehen hatte, und mir wurde klar, wie sehr ich meinen Messern ähnelte: Ich war hart und kalt, ein Werkzeug, um andere auf Distanz zu halten.
Ich lief zurück zu meinen Pflegeeltern, und wir machten uns auf den Weg zu dem Haus, das so unerwartet zu meinem neuen Zuhause geworden war. Ich hatte dort ein gemütliches Zimmer und ein unvorstellbar großes Bett, und die überraschende Begrüßung am Tor festigte meinen Entschluss, Erlösung besser zu verteidigen, als ich es bei College vermocht hatte. Wenn ich es nüchtern betrachtete, hatten die Ältesten mich verstoßen. Sie hatten meine Dienste in Anspruch genommen und mich dann fallen gelassen, weil es ihnen wichtiger war, die Bewohner der Enklave in Unwissenheit und Angst zu halten. Oben hatte ich zum ersten Mal wieder das Gefühl, etwas wert zu sein, und das machte die unangenehmen Begleiterscheinungen wie Schule und spottende Bälger gleich um einiges erträglicher.
» Er kommt«, sagte ich atemlos.
Oma Oaks lächelte. » Er scheint ein netter junger Mann zu sein.«
» War es schlimm da draußen?«, fragte Edmund.
» Außer in den Ruinen habe ich noch nie so viele Freaks auf einmal gesehen«, antwortete ich.
» In Gotham?«, keuchte Oma Oaks.
Ich nickte. » Dort waren sie überall…«
» Ich glaube, wir Menschen ziehen sie an«, überlegte Edmund. » Und zwar nicht nur, weil sie Hunger haben, sondern weil sie uns hassen. Sie geben uns die Schuld… die Schuld für das, was sie sind. Es geht ihnen nicht nur ums Überleben. Sie führen einen Krieg gegen uns.«
Edmunds Worte ließen die Härchen auf meinen Armen zu Berge stehen. Sie erinnerten mich an Mrs. James’ Geschichte über Hybris und den angeblichen Ursprung der Freaks. Es war bestimmt nicht seine Absicht gewesen, aber für den Rest des Nachhausewegs konnte ich an nichts anderes mehr denken.
» Glaubst du das, was Mrs. James uns im Geschichtsunterricht erzählt?«, fragte ich Edmund, als wir eintraten.
Ich musterte sein müdes Gesicht und die Fältchen um seine Augen, die er den ganzen Tag lang beim Ledernähen zusammenkniff. Auf den Händen hatte er Narben von seiner Arbeit. Er schlurfte zu einem Sessel im Wohnzimmer, ließ sich mit einem Seufzen hineinsinken und rieb sich das Kinn.
» Über die Entstehung der Stummies?«, fragte er.
» Ja, Sir.«
Die Anrede schien ihm zu gefallen, und er richtete sich gleich ein Stückchen auf. Wahrscheinlich sprachen die Leute ihn, den Schuhmacher, nur selten so an. Ich fand seine Aufgabe wichtig und anerkennenswert. Ohne Edmund müssten wir alle barfuß laufen, und im Winter würden wir uns die Zehen abfrieren.
Oma Oaks schien glücklich, dass wir uns unterhielten, auch wenn sie mit dem Thema nicht einverstanden war. Sie verschwand in der Küche, und das Klappern der Pfannen und Töpfe ließ meinen Magen knurren, so sehr hatte ich mich an die drei Mahlzeiten am Tag gewöhnt.
Edmund nickte nachdenklich. » Soweit wir wissen, ist es wahr. Die Aufzeichnungen sind unvollständig, wie du dir vorstellen kannst, und in den Anfangstagen von Erlösung wurde vieles vernichtet, was den Gründern nicht passte. Sie hatten beschlossen, ein einfacheres Leben zu führen, so wie es früher gewesen war. Sie hofften, dadurch den Himmel wieder zu besänftigen.«
Ich sah ihn verblüfft an. » Sie hatten Dinge aus der alten Welt und haben sie weggeworfen?«
» Soweit ich weiß, ja.«
» Warum?«
Edmund schnaubte. » Das ist schwer zu erklären, Zwei, aber ich werde es versuchen. Stell dir vor, du hast eine Waffe, die du selbst nicht ganz verstehst, und mit dieser Waffe bringst du zahllose Menschen um. Wäre es da nicht besser, sie zu zerstören, damit niemand das Gleiche noch einmal tun kann?«
Das leuchtete mir ein. » Danke. Ich werde darüber nachdenken«, sagte ich und machte mich auf den Weg zur Treppe. Ich wollte Bleich nicht mit Edmund allein lassen, falls die beiden sich nichts zu sagen hatten, und musste mich möglichst schnell umziehen.
Mit pochendem Herzen lief ich die Treppe hoch. Auf dem langen Marsch hierher hatten Bleich und ich zahllose Male zusammen gegessen, aber irgendetwas sagte mir, dass der heutige Abend etwas Besonderes war.
Ich wusch mich hastig, löste meine Zöpfe und betrachtete mich in dem kleinen Spiegel in meinem Zimmer. Wie immer
Weitere Kostenlose Bücher