Die Zuflucht
spürte ich keine Verbindung zu der Frau, die ich dort sah. Ich mochte nicht so hübsch sein wie einige der Mädchen in der Schule, aber das schien mir nicht wichtig. Ich war stark, und ich konnte kämpfen. Das war es, was zählte.
Schließlich streifte ich mir ein Kleid über, das ich zumindest nicht hasste. Es war grün und hatte einen einfachen Schnitt. Mir zuliebe hatte Oma Oaks keine Spitzen daran genäht. Es würde sie bestimmt freuen, wenn ich es trug. Ich drehte mich hin und her, versicherte mich, dass alles sauber war, und lief dann nach unten.
Edmund stand gerade an der Tür und ließ Bleich herein. Mein Herz machte einen Sprung, und ich kam mir beinahe albern dabei vor. Wir hatten praktisch den ganzen Tag zusammen verbracht, auch wenn wir nicht viel Zeit zum Reden gehabt hatten, weil wir mit anderen Dingen beschäftigt gewesen waren.
Mein Bild von ihm hatte sich verändert, seitdem wir gesprochen hatten. Bleichs Gesicht hatte mich schon immer fasziniert, aber plötzlich starrte ich ihm dauernd auf den Mund, wenn er sprach. Mir war eigenartig zumute, ich war fahrig und nervös. Erst als Bleich wortlos meine Hand nahm, konnte ich wieder stillhalten, fühlte mich wie ein Vogel im Nest.
» Wir sollten nachsehen, ob sie Hilfe braucht«, sagte ich und nickte Richtung Küche.
Bleich willigte erleichtert ein. Ob er seiner Mutter damals auch beim Kochen geholfen hatte? Auf jeden Fall stellte er sich um einiges geschickter an als ich, und nach einer Weile setzte ich mich auf einen Stuhl und beobachtete die beiden. Er sollte hier bei den Oaks leben, dachte ich, nicht ich. Nach dem Leben, das ich Unten geführt hatte, hätte es mir nichts ausgemacht, als billige Arbeitskraft benutzt zu werden. Ich war nichts anderes gewohnt.
Aber Bleich? Ich wollte, dass er glücklich war. Das war das Einzige, was zählte.
BITTERSÜSS
Während wir das gebratene Fleisch und die Kartoffeln aßen, versuchten meine Pflegeeltern, sich ein Bild von Bleich zu machen. Sie fragten ihn, wie es Unten gewesen war, und wollten etwas über die Zeit wissen, die er mit seinen Eltern in den Ruinen verbracht hatte. Anfangs hatte ich das Gefühl, dass er nicht gern darüber redete, aber je mehr Essen Oma Oaks ihm auftischte, desto bereitwilliger erzählte er.
Auf unserer Flucht aus den Tunneln hatten wir mit weit weniger auskommen müssen. Hier gab es so viel, und das umsonst. Obwohl es eine eher einfache Mahlzeit war– sie bestand aus dem, was von der letzten Ernte übrig geblieben war–, erschien mir Erlösung wie ein Ort des unfassbaren Überflusses. Ich konnte immer noch nicht ganz glauben, dass Bleichs Zeuger tatsächlich recht gehabt hatte.
» Du hast mit deinen Eltern also in Gotham gelebt?«, fragte Oma Oaks. » Ich möchte keine schmerzhaften Erinnerungen in dir wachrufen, aber, wie alt warst du, als…«
» Als sie starben?«, unterbrach Bleich.
Sie nickte. » Ja.«
Ich hörte fasziniert zu. Ich hatte mich nie getraut, so direkt zu fragen, vor allem weil ich Angst davor gehabt hatte, keine Antwort zu bekommen, und als er mir freiwillig davon erzählte, hatte ich ihm nicht geglaubt. Seitdem hatte er nie wieder davon gesprochen, und ich freute mich, die Geschichte nun doch noch zu hören.
» Als meine Mutter starb, war ich ungefähr sechs. Bei meinem Vater acht oder neun.«
Edmund und Oma Oaks tauschten einen vielsagenden Blick, den ich nicht deuten konnte. » Waren sie… krank, mein Junge?«
Bleich nickte, sein Gesicht wurde hart, und er starrte auf seinen Teller. Er wollte die Sache nicht vertiefen. Von der Krankheit zu erzählen würde nur all den Schmerz wieder heraufbeschwören, und es gab keinen Grund, Salz in alte Wunden zu streuen.
» Der Braten schmeckt köstlich«, warf ich ein. » So etwas Gutes habe ich noch nie gegessen.«
» Es ist Fasan«, erklärte Oma Oaks. » Die Jäger haben gestern welche geschossen, und wir haben einen davon gekauft.«
Ich spürte sofort einen Stich. Am liebsten wäre ich dabei gewesen und hätte selbst meinen Beitrag zur Nahrungsversorgung geleistet. Das war es, was ich gelernt hatte, und nicht in einer Schule herumzusitzen. Aber den Streit hatten wir bereits, und ich konnte von Glück reden, dass Draufgänger mich in die Patrouille aufgenommen hatte. Eins nach dem anderen. Ich konnte nicht alle Regeln auf einmal über den Haufen werfen. Außerdem hatte ich in Draufgänger und Oma Oaks zwei Menschen, die, ganz im Gegensatz zu den Ältesten Unten, auch andere Meinungen gelten ließen.
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