Die Zuflucht
ab?«, fragte ich.
» Nicht so.« Er klang erschüttert. » Zumindest in den letzten Jahren nicht. Diese Anzahl… es war… unnatürlich.«
Das hörte sich nicht gut an. Auf dem Weg nach Erlösung hatten wir viele Freaks gesehen, aber da ich erst seit Kurzem hier war, wusste ich nicht, was normal war und was nicht. Bleich hatte gesagt, als er noch ein Balg war, hätte es hier noch keine gegeben. Auch Pirscher hatte noch nie welche gesehen, bevor er sich an unsere Verfolgung machte. Und jetzt schien die ganze Welt von ihnen befallen zu sein wie eine verwesende Leiche. Es war unmöglich zu sagen, wann genau sie Oben erschienen waren und wo sie ursprünglich herkamen. Aber irgendwo krochen sie hervor wie aus einer schwärenden Wunde.
» Dann waren es mehr als sonst?«, fragte Pirscher und gesellte sich zu uns. In der Schlacht schien er einen Teil seiner Wut abreagiert zu haben, aber er blickte mir noch immer nicht in die Augen.
» Es waren mehr, als wir sonst in einem ganzen Jahr zu sehen bekommen«, antwortete Draufgänger mit gerunzelter Stirn.
» Werden die Felder normalerweise bewacht?«, wollte Bleich wissen.
Draufgänger schüttelte den Kopf. » Nicht nötig. Sie machen keine Überfälle, streifen nur planlos umher.«
» Ich hatte dir gesagt, dass die, denen wir unterwegs begegnet sind, schlauer waren als die Unten«, gab ich zu bedenken. Ich war nicht sicher, ob er meine Worte wirklich ernst genommen hatte.
Er seufzte. » Das hat uns gerade noch gefehlt. Als ob das Leben hier nicht schon hart genug wäre.«
Der Rest des Tages verlief ohne weitere Zwischenfälle. Falls noch mehr Freaks in der Gegend waren, hatten sie sich auf leichtere Beute verlegt. Trotzdem hinterließ der Angriff von heute Morgen einen bitteren Nachgeschmack. Sie hatten uns aufgelauert, hatten gewusst, wo der Konvoi entlangkommen würde. Wahrscheinlich wussten sie auch, dass es noch mehr Konvois geben würde. Sobald die Saaten zu wachsen begannen, mussten die Pflanzer zurückkommen und sich um sie kümmern.
Bestimmt würden sie es wieder versuchen.
Mein Instinkt sagte mir, wenn die Freaks es schafften, uns im Wald aufzulauern, waren sie vielleicht auch noch zu mehr in der Lage. Sie waren die klügsten, die ich je gesehen hatte, und das war erschreckend. Pirscher hatte nicht genug Erfahrung mit ihnen, um irgendetwas beitragen zu können, also fragte ich auf dem Rückweg Bleich nach dessen Einschätzung.
» Was hältst du davon?«, flüsterte ich.
» Sie haben sich definitiv verändert«, bestätigte er meine Meinung.
» Kannst du dir vorstellen, wie das passiert ist?«
Er schüttelte den Kopf. » Wenn ich es könnte, würde mir vielleicht einfallen, was sich dagegen tun lässt.«
Genau das war das Problem. Ich genoss das bisschen Respekt, das ich mir heute verschafft hatte, und ich wollte es nicht aufs Spiel setzen, indem ich wilde Theorien verbreitete, für die ich keinen Beweis hatte. Es war möglich, dass das Leben Unten mich vorsichtig gemacht hatte und ich meine Meinung gegenüber Älteren lieber für mich behielt, aber in dieser angespannten Lage konnte man mir das kaum vorwerfen. Tiefe Sorge rumorte in mir, als wir uns dem Stadttor näherten. Wir hatten so vieles durchgemacht. Die Vorstellung, ich könnte mein neues Zuhause gleich wieder verlieren, machte mir entsetzliche Angst– und wenn ich nicht gerade kämpfte, war ich der Angst genauso schutzlos ausgeliefert wie alle anderen. Ich verbarg es nur besser.
» Was ist passiert?«, rief der Wachposten von oben herunter.
» Stummies«, antwortete Draufgänger. » Wir haben sechs Leute verloren. Und jetzt macht das Tor auf, bevor es dunkel wird!«
Ein Raunen ging durch die Männer auf der Palisade, und ich hörte, wie die Nachricht sofort weitergegeben wurde. Wie ein Lauffeuer verbreiteten sich die Rufe über die gesamte Stadt. Die Männer dort oben mussten unglaublich erleichtert sein, dass sie nicht zu den Sommerpatrouillen gehörten. Nur eine Verrückte wie ich konnte dankbar sein für eine so gefährliche Aufgabe.
Als die Wachen uns hereinließen, sah ich, dass wir bereits erwartet wurden: Hinter dem Tor standen Männer und Frauen und suchten ängstlich nach ihren Familienmitgliedern. Zu meiner Überraschung war auch Oma Oaks unter ihnen. Sie hatte Edmund im Schlepptau. Dass er mitgekommen war, hellte meine Stimmung ein wenig auf. Ich hatte befürchtet, er könnte in mir nur einen lästigen Störenfried sehen, der in seinem Haus schläft und ihm das Essen wegnimmt.
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