Die Zuflucht
Es ist so etwas Ähnliches wie Nebel«, erläuterte Oma Oaks. » Nur dass es nicht aus dem Boden aufstieg, sondern von den Menschen gemacht war. Es war giftig und verbrannte ihre Lungen.«
Vielleicht war das der Hintergrund, weshalb der Worthüter immer behauptete, der Regen Oben würde uns das Fleisch von den Knochen fressen. Je öfter eine Geschichte weitergegeben wurde, desto mehr wurde sie verfälscht, und so war aus dem Gas schließlich brennendes Wasser geworden. Meine Sippe hatte so lange Unten gelebt, dass wir irgendwann jede Vorstellung von der Welt außerhalb der Tunnel verloren hatten.
» Manche sagen, es hätte sogar noch Schlimmeres angerichtet als das«, fuhr Edmund in finsterem Ton fort. » Die Welt stürzte ins Chaos, und die Stolzseuche bestrafte die Menschheit für ihren Hochmut.«
Oma Oaks musste die Neugier in unseren Augen gesehen haben, denn sie beantwortete die Frage, noch bevor wir sie stellen konnten: » Die Stolzseuche war eine schreckliche Krankheit, die Jung und Alt gleichermaßen dahinraffte.«
Bleich und ich sahen einander an. Seine Eltern waren an verseuchtem Wasser gestorben und mit ihnen eine Unzahl anderer. Ich konnte mir zwar nicht vorstellen, dass Stolz etwas damit zu tun gehabt hatte, aber ich wollte nicht dazwischenreden.
Edmund erzählte immer begeisterter. » Die Menschen flohen in Massen aus den Ruinen. Sie nahmen nur mit, was sie tragen konnten. Die Weisesten und Fähigsten unter ihnen gingen nach Norden, weil sie glaubten, dass die Luft dort sauber und rein war.«
Genau wie Bleichs Vater erzählt hat .
» Die Maschinen und Götzen, die diese Zerstörung über sie gebracht hatten, ließen sie zurück, und beizeiten brachte der Prophet Matthäus die Menschen hierher. In einer Vision hatte er gesehen, dass sie hier sichere Zuflucht finden würden, eine Stadt, die schon zweimal wiederaufgebaut worden war. Wenn sie sie ein drittes Mal errichteten, würden sie Schutz finden vor den Plagen der Welt, denn drei ist die heilige Zahl, die Zahl der Dreifaltigkeit. Doch würden sie ein Leben führen müssen, wie es früher einmal gewesen war, ein züchtiges Leben, das den Zorn des Himmels nicht erneut entfachte.«
Ich hatte keine Ahnung, was er damit meinte, und konnte mir auch nicht vorstellen, warum der Himmel sich Gedanken machen sollte, was so weit unten vor sich ging. Trotzdem hatte ich es geschafft, die ganze Zeit über zuzuhören, und das schien mir ein gutes Zeichen. Zum ersten Mal hatte ich etwas über Geschichte gelernt, ohne dabei vor Langeweile einzuschlafen. Das hatte ich Edmunds Erzählkunst zu verdanken.
» Vielen Dank«, sagte ich. » Das war eindeutig interessanter als in der Schule.« Trotzdem hatte ich eine Frage. » Mrs. James sagte, die Stolzseuche hätte mit der Entstehung der… Stummies zu tun.« In meinen Gedanken hießen sie immer noch Freaks. » Stimmt das?«
» So glauben die meisten«, antwortete Edmund mit einem Nicken. » Ob es stimmt, weiß ich nicht.«
» Wir sollten jetzt nach oben gehen«, mischte sich Oma Oaks ein und warf Edmund einen Blick zu.
Edmund neigte den Kopf und erhob sich. » Wir werden euch beide jetzt allein lassen, damit ihr in Ruhe miteinander reden könnt. Aber bleibt nicht zu lange auf.«
Die Decke über unseren Köpfen knarrte, während die beiden sich bereit fürs Bett machten. Es war ein heimeliges Geräusch, denn es erinnerte mich daran, dass ich nicht allein war. So unglaublich es auch schien, ich hatte jetzt eine Familie. Unten hätten nur Stein und Fingerhut überhaupt bemerkt, wenn ich eines Tages nicht mehr von einer Patrouille zurückgekehrt wäre. Aber selbst sie hätten nicht lange um mich getrauert. Der Tod war in der Enklave viel zu alltäglich.
» Ich mag sie«, sagte Bleich leise und zog mich näher an sich heran, wie er es früher ein paar Mal getan hatte, um mich zu trösten. Diesmal jedoch war der Grund ein anderer, und das gefiel mir.
Ich schmiegte mich an ihn, genoss die Berührung seiner Haut, spürte die Wärme, die mich durchströmte und allen Schmerz von mir nahm.
» Sie sind sehr gütig zu mir.« Ich dachte über das nach, was Edmund uns erzählt hatte. » Glaubst du, an der Geschichte ist was Wahres dran?«
» Was genau meinst du?«
» Dass es eine Strafe ist, wie die Welt jetzt aussieht.«
Er schüttelte den Kopf. » Mein Vater hat nie etwas in der Art erzählt, und das meiste, was er sagte, hat sich als richtig herausgestellt. Ich glaube, die Welt ist einfach so geworden.«
» Aber warum
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