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Die Zuflucht

Die Zuflucht

Titel: Die Zuflucht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ann Aguirre
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sollten sie sich das alles ausdenken?«
    Bleich lehnte den Kopf gegen meinen, und seine Wange berührte mein Haar. Ich war froh, dass ich die Zöpfe geöffnet hatte und er spüren konnte, wie weich es war– wenn auch nicht so fein säuberlich gekämmt wie bei den anderen Mädchen.
    » Die Menschen versuchen immer, sich die Dinge zu erklären«, sagte er schließlich, » und wenn sie keine Erklärung haben, dann denken sie sich eine aus. Für manche ist eine falsche Erklärung immer noch besser als gar keine.«
    Das klang überzeugend. Es war genau das, was ich mir schon länger über den Worthüter gedacht hatte. » Wahrscheinlich hast du recht. Trotzdem ist mir die Wahrheit lieber, selbst wenn sie unsicher ist.«
    » Du kannst die Unsicherheit ertragen, weil du tapfer bist, eine starke Seele.«
    » Du nicht auch?«, fragte ich.
    » Ich versuch’s.«
    Mit dieser Antwort hatte ich nicht gerechnet, aber Bleichs Hände lenkten mich ab: Er zog meinen Kopf an sich heran und küsste mich. Sein Mund schmeckte süßlich wegen des Apfelweins, den er zum Abendessen getrunken hatte, verführerisch und zart, und seine Lippen glühten beinahe. Wir küssten uns wieder und wieder, er presste mich an sich, ich streichelte sein Gesicht, befühlte seinen Kiefer und fuhr durch sein Haar. Seidig und kühl glitt es zwischen meinen Fingern hindurch. Mein Blut wurde immer heißer. Ich konnte mich kaum noch beherrschen, und am liebsten wäre ich auf ihn draufgeklettert.
    Als Bleich sich losmachte, zitterte er am ganzen Körper, als hätte er Fieber. Ich legte ihm besorgt eine Hand auf die Stirn, doch er lachte nur. » Ich bin nicht krank, Zwei. Anscheinend weißt du nicht, wie attraktiv du bist.«
    Ich, attraktiv? Bestimmt nicht. Bestimmt ist es das Kleid .
    Mir war so schwindlig, dass ich mich fast dafür schämte. Wie eine schnurrende Katze presste ich mich gegen seine Hände auf meinem Rücken. Am liebsten wäre ich in ihn hineingekrochen. Beinahe schon aus Selbstschutz riss ich mich unvermittelt los. Ich konnte an Bleichs Gesicht sehen, dass er mich verstand. Er streichelte meine Fingerkuppen, um das Feuer nicht erkalten zu lassen, und ein Kitzeln jagte meine Unterarme hinauf.
    » Gefällt es dir hier?«, fragte er.
    » In Erlösung oder bei den Oaks?«
    » Beides.«
    » Es ist alles ganz anders hier, und manche ihrer Regeln ergeben keinen Sinn, aber insgesamt…«
    » Dann vermisst du also nichts?«
    In seinen dunklen Augen stand noch eine andere Frage, und ich schüttelte den Kopf. » Nicht mehr. Ich will nicht mehr zurück, selbst wenn ich könnte. Hier bin ich freier.«
    Bleich seufzte erleichtert, als hätte er befürchtet, ich könnte mir wünschen, ich hätte die Enklave nie verlassen. Ich war nicht wegen ihm weggegangen. Ich hatte das Opfer auf mich genommen, um meinen Freund Stein vor der Verbannung zu retten. Es gab nur eins, was ich bereute: Ich hatte Stein nicht erklären können, dass ich um seinetwillen ein falsches Geständnis abgelegt hatte.
    Bleich fasste mich an den Wangen und neigte den Kopf. Unter seinen schwarzen Locken hervor blickte er mich an. » Kannst du mir erklären, warum du so viel Zeit mit Pirscher verbracht hast, wenn er nicht derjenige war, der…«
    » Mich als Einziger küssen durfte?«, beendete ich seinen Satz, obwohl ich nicht sicher war, was er wirklich meinte.
    Er nickte. » Ja. Kannst du es mir erklären?«
    » Es war das Einfachste«, sagte ich und fragte mich, ob das als Antwort genügte. » Er war immer da, und ich hatte keine Lust, ständig allein zu sein.«
    Bleich zog die Augenbrauen nach oben. » Das reicht schon? Wenn ich einfach nur da bin?«
    » Es wäre ein Anfang«, murmelte ich.
    Einen Moment lang fürchtete ich, er könnte wütend werden, aber Bleich lachte nur. » Du hast recht. Ich habe wohl zu schnell aufgegeben.«
    » Ich habe ja nicht einmal gewusst…«, begann ich und verstummte wieder. Es war schwierig, die richtigen Worte zu finden. » Ich hatte keine Ahnung, dass du etwas glaubst, was gar nicht stimmt.«
    In Bleichs Gesicht standen immer noch Zweifel, als hätte er ein Bild im Kopf, das er nicht loswurde. Dann hellte sich seine Miene auf, als hätte er einen Entschluss gefasst.
    » Es war mein Fehler«, flüsterte er und hauchte mir einen Kuss auf die Stirn. » Ich habe vergessen, dass du es mir gesagt hättest, wenn etwas nicht stimmt.«
    » Das hätte ich.«
    Er hob meine Hand an seine Lippen. » Du erinnerst dich zwar nicht mehr daran, aber als wir hier ankamen, habe

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