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Die Zuflucht

Die Zuflucht

Titel: Die Zuflucht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ann Aguirre
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Wohnzimmer. Ich hörte Edmund und Bleich oben umherlaufen und hoffte, sie wären eine Zeit lang beschäftigt, damit wir eine Weile ungestört blieben.
    » Er schloss sich der Stadtwache an«, erklärte sie. » Und ich war stolz auf ihn.«
    Es musste hart für sie gewesen sein, als ich mehr oder weniger in seine Fußstapfen trat. Andererseits konnte Wachehalten auf der Stadtmauer nicht allzu gefährlich gewesen sein. Es musste noch etwas anderes passiert sein.
    » Daniel war ein guter Junge.« Ihre Stimme stockte, als hätte sie Schmerzen im Hals, wenn sie seinen Namen aussprach. Ich wollte schon sagen, sie müsse es nicht erzählen, aber sie sprach bereits weiter. » Eines Sommers vor ein paar Jahren stahl sich ein Mädchen zusammen mit den Pflanzern nach draußen zu den Feldern. Sie war ein neugieriges, lebendiges Kind, immer voller Fragen über die Welt jenseits von Erlösung. Es wurde dunkel, bis jemand merkte, dass sie nicht mehr da war.«
    » Hat Daniel den Suchtrupp angeführt?«
    Ihre Lippen wurden hart. » Er ist als Einziger gegangen. Ihr Vater weigerte sich wegen der Stummies. Ihre Eltern schrieben sie einfach ab und beweinten ihren Tod. Sie wollten es nicht einmal versuchen…« Oma Oaks verachtete ihre Feigheit, und in dem Moment wusste ich, wenn ich verloren gehen sollte, würde sie mich suchen. Ich schwor mir, sie nie in diese Lage zu bringen.
    » Er ist ganz allein rausgegangen?« Wie von selbst stiegen die Bilder in mir auf. Ich sah einen tapferen jungen Mann, der erledigte, wozu die anderen nicht imstande waren, der für ein Kind sein Leben riskierte, das nicht einmal sein eigenes war. Ich hatte ihn nicht gekannt, aber ich spürte trotzdem Tränen in den Augen.
    » Noch vor Sonnenaufgang, ja. Ich blieb bei Kerzenschein wach und wartete auf ihn.«
    Das Bild von Oma Oaks’ einsamer Nachtwache brach mir das Herz. Ich wusste bereits, wie die Geschichte endete. » Hat er sie gefunden?«
    Sie seufzte schwer. » Mit ihr auf den Armen kam er ans Tor gewankt. Er blutete so stark, dass ich mir nicht vorstellen konnte, wie er es vom Wald bis hierher geschafft hatte.«
    » Und er starb«, flüsterte ich.
    » An seinen Verletzungen, ja. Es dauerte drei Tage, aber es gab keine Rettung mehr für ihn. Sein ganzer Körper hing in Fetzen.«
    » Aber die Wunden waren nicht von Tieren…«
    Hass flammte in ihren sonst so gütigen Augen auf. » Nein. Sie waren es. Die Stummies. Sie haben versucht, sich das Mädchen zu holen, und Daniel hat die Kleine gerettet. Stadtvorsteher Bigwater hielt eine Rede zu seinen Ehren, aber«– sie unterdrückte ein Schluchzen– » das gibt ihn mir auch nicht zurück.«
    Ich wünschte, ich hätte sie nie danach gefragt, denn jetzt verstand ich, wie schwierig es für sie sein musste zu sehen, wie ich zum Vorposten zurückkehrte. Es musste ihr vorkommen, als würde sie das alles noch einmal durchleben. Zum ersten Mal begriff ich, wie stark meine Handlungen sich auf andere auswirken konnten, selbst wenn ich nur die besten Absichten verfolgte.
    » Es tut mir leid«, sagte ich sanft. Und damit meinte ich nicht nur Daniels Schicksal, sondern auch das, was sie wegen mir ertragen musste: den wiederaufflammenden Schmerz und die erneute Sorge um ein Mitglied ihrer Familie.
    » Das muss es nicht. Was du tust, ist eine wichtige Aufgabe. Und daran werde ich mich erinnern, wenn ich im Winter für uns alle koche. Ganz sicher.« Ihre Worte sollten mich beruhigen, aber sie konnten die sorgenvollen Falten um ihren Mund nicht vertreiben.
    Wir verabschiedeten uns still und in gedrückter Stimmung, denn wir wussten, es würde eine ganze Zeit dauern, bis wir einander wiedersahen. Wenn überhaupt. Doch Oma Oaks ließ sich nichts anmerken und winkte uns mit einem warmen Lächeln hinterher, nachdem wir gegangen waren.
    » Habt ihr mitgehört?«, fragte ich Bleich.
    » Das Haus ist klein.«
    » Denkst du, ich hätte bleiben sollen?«
    Er schüttelte den Kopf. » Du kannst dein Leben nicht für andere leben. Aber ich habe noch nie einen Mann so weinen sehen.«
    Die Worte trafen mich bis ins Mark. Ich stellte mir Edmund vor, wie er oben auf dem Treppenabsatz stand und ein weiteres Mal die Geschichte ihres grausamen Verlusts hörte, während ihm die Tränen über das faltige Gesicht strömten. Es konnte gefährlich sein, wenn man jemanden zu sehr liebte, auch das wusste ich jetzt. Aber die Alternative war kein bisschen besser.
    Bleich ging voraus, als wir uns am Sammelplatz mit den Pflanzern trafen. Tegan hüpfte

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