Die Zuflucht
ich habe recht?« Die Frage überraschte mich. Noch nie hatte ein Vorgesetzter mich nach meiner Meinung gefragt.
» Ich weiß es nicht«, gestand ich. » Ich habe das Gefühl, sie warten auf etwas, aber vielleicht täusche ich mich auch. Es könnte noch ein ganzes Jahr dauern, bis sie zuschlagen. Oder vielleicht haben sie sich so weit verändert, dass sie einfach in Ruhe gelassen werden und unbehelligt in den Wäldern ihrer Jagd nachgehen wollen.«
» Ich habe ein ungutes Gefühl bei der Sache«, murmelte er mehr zu sich selbst.
Damit war er nicht allein. Bei Draufgänger mochte es am Alter liegen, aber bei mir musste es etwas anderes sein. Ein Frösteln durchlief mich.
Nach dem Abendessen winkte ich Pirscher und Bleich zu mir.
» Was hat er gesagt?« Pirscher klang ungeduldig.
» Dass es dumm wäre, sie anzugreifen.« Draufgänger hatte es zwar nicht erklärt, aber ich kannte seine Gründe auch so. » Wir sind zu wenige, um eine Offensive zu riskieren. Es ist das Beste, wenn wir hier die Stellung halten und unseren Auftrag erfüllen. Erlösung braucht die Ernte für den nächsten Winter.«
Pirscher fluchte leise. » Ich habe mich freiwillig gemeldet, weil ich dachte, hier würde was passieren. Das hier ist eine Schande.«
» Was ist eine Schande?« Bleich rückte dichter an mich heran, und ich fragte mich, ob er mir damit etwas sagen wollte.
» Nichts zu unternehmen, obwohl wir genau wissen, wie und wo wir zuschlagen müssen.« Er schaute mich an. » Ich weiß, du bist derselben Meinung. Du bist doch Jägerin, oder etwa nicht? Wie kannst du diese Untätigkeit aushalten?«
Da fiel es mir wie Schuppen von den Augen: Ich war keine Jägerin, nicht mehr. Ich hatte die Narben, aber das Leben, das ich als Jägerin geführt hatte, existierte nicht mehr. Ich schüttelte den Kopf. » Ich war mal eine«, flüsterte ich. » Jetzt bin ich nur noch ich.«
Was auch immer das bedeutete. Ich hatte zwar immer noch meine Instinkte, sie waren ein Teil von mir geworden, und ich konnte diese trügerische Ruhe genauso wenig ertragen wie Pirscher. Aber manchmal musste man eben abwarten, wenn man seinen Auftrag erfüllen wollte, und ein mögliches Versagen war für mich weit schlimmer als Untätigkeit. Auch wenn mir nicht gerade wohl war bei dem Gedanken an dieses Freak-Dorf ganz in unserer Nähe.
Pirscher sprang auf. Feuer brannte in seinen hellen Augen. » Es ist einfach zum Kotzen, schlimmer als die Schule!«
In diesem Punkt konnte ich ihm nicht zustimmen. Zumindest hatte das, was wir hier taten, einen Sinn.
Er wirbelte herum, stapfte zu dem kleinen Schutzwall, der unser Lager umgab, und starrte hinüber zu der dunklen Baumlinie in einiger Entfernung. Ich konnte förmlich spüren, wie gefangen er sich hier fühlte.
» Bin gleich wieder da«, sagte ich zu Bleich, ging hinüber zu Pirscher und legte ihm eine Hand auf den Arm. Seine Muskeln waren angespannt wie Drahtseile. » Versprich mir, dass du Draufgängers Entschluss respektierst und dich nicht alleine auf den Weg zu dem Freak-Dorf machst.«
Er lachte und grinste etwas zu breit. Seine Augen glühten wild. » Wie viel würdest du auf mein Versprechen geben? Ich gehöre nicht zu deiner feinen Untergrundsippe und kenne keine Ehre, nicht wahr? Ich habe dein Vertrauen nicht verdient.«
Ich hatte befürchtet, dieser Moment würde eines Tages kommen. Die Tatsache, dass es Monate gedauert hatte, sprach für seine enorme Selbstbeherrschung. Erst jetzt begriff ich, um was es ihm eigentlich ging.
» Du bist gar nicht wegen Draufgängers Entschluss wütend, sondern deshalb, weil ich mich für Bleich entschieden habe.«
» Ach was?«, entgegnete er höhnisch.
Ich sagte nichts und wartete.
» Vielleicht«, gestand er schließlich. » Hilf mir, es zu verstehen, Zwei.«
Meine Erklärung würde ihm auch nicht weiterhelfen. Ich kannte Bleich wesentlich länger als Pirscher, und ich vertraute ihm. Er hatte mich in die Verbannung begleitet, und das konnte kein anderer je wettmachen.
Trotzdem schuldete ich Pirscher eine Erklärung. » Wir haben eine gemeinsame Vergangenheit.«
Eine Vergangenheit, in der Bleich mich nicht durch die Ruinen verfolgt und schließlich entführt hatte– aber davon sagte ich nichts, auch wenn ich es Pirscher nicht mehr nachtrug. Ich würde mich nie für ihn entscheiden, und das hatte nichts damit zu tun, wo und wie er aufgewachsen war. Ich wollte ihn als Freund, mehr nicht.
» Verstanden.« Er blickte mich kurz an. » Dann werde ich mich eben mehr
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