Die Zuflucht der Drachen - Roman
Zentauren erwischen lassen oder so. Ich habe einige gute Freunde in Fabelheim gefunden. Sie werden mir helfen, mit dem Schmollen aufzuhören. Sag Oma und Opa, sie sollen sich keine Sorgen machen. Ich werde vielleicht für ein Weilchen dortbleiben. Wenn sie mich in den Kerker sperren wollen, wenn ich zurückkomme, dann soll es eben so sein.
Pass auf dich auf. Lass dich nicht von Drachen fressen. Viel Spaß.
Alles Liebe,
Seth
Kendra faltete den Brief zusammen. Er war so lieb und gleichzeitig so selbstbezogen. Wie konnte Seth nach allem, was geschehen war, wieder in den Wald davonlaufen? Alle hatten auch so schon genug Sorgen. Sie griff nach dem Brustpanzer und fragte sich, ob etwas so Leichtes wirklich stabil sein konnte. Dem Gewicht nach hätte der Brustpanzer auch aus Alufolie sein können. Seth hatte ihn superstabil genannt. Sie klopfte mit den Knöcheln gegen das Metall. Es fühlte sich fest an.
Nachdem Opa den Brief stirnrunzelnd gelesen hatte, rieb er sich kurz die Augen und erzählte dann den anderen, was darin stand. Warren und Tanu bat er eigens sicherzustellen, dass Seth sich nicht im Wagen oder im Rucksack versteckt hatte, und gegenüber Kendra beteuerte er, er würde sich um das Problem kümmern, sie solle sich keine Sorgen machen.
Schließlich zeigte Kendra Coulter noch den Brustpanzer, da magische Gegenstände sein Spezialgebiet waren. Coulter hielt ihn lange Zeit ehrfürchtig in den Händen und untersuchte ihn mit großer Sorgfalt. Er riet ihr dringend, ihn versteckt zu halten. So ein Brustpanzer sei unbezahlbar, und es gebe Menschen, die für ein Stück echte Adamantrüstung töten würden. Und, ja, er sei übernatürlich strapazierfähig, ganz wie Seth behauptet hatte.
Noch bevor sie sich wirklich bereit dazu fühlte, umarmte Kendra ihre Großeltern zum Abschied und beeilte sich, in den SUV zu steigen, dessen Motor bereits lief.
Die Straßen in Kalispell waren links und rechts von gigantischen Schneewehen gesäumt und die kalte Nacht extrem klar. Am mondlosen Himmel glänzten die Sterne schärfer und zahlreicher, als Kendra es je gesehen hatte. Sie warteten neben dem kleinen Flughafen darauf, dass Tanu mit dem Mietwagen kam, und Warren machte Kendra auf ein paar winzige Leuchtpunkte aufmerksam, die in schnurgeraden Bahnen über das sternenübersäte Firmament zogen. »Satelliten«, erklärte er ihr.
Als der Mietwagen schließlich auf den Parkplatz des Hotels einbog, wurde Kendra zappelig und trommelte nervös auf ihren Oberschenkeln herum. Der Gedanke, Gavin wiederzusehen, machte sie unruhig. Oder war »verlegen« das bessere Wort? Ob Verl sich heute Mittag genauso gefühlt hatte? Plötzlich erschien ihr sein Benehmen gar nicht mehr so lächerlich.
Kendra atmete einmal tief durch. Sie brauchte lediglich freundlich zu sein. Der Druck, den sie spürte, war nur ein Produkt ihrer allzu lebhaften Fantasie. Dies war eine gefährliche Mission, kein Date. Wenn jemals romantische Gefühle zwischen ihnen erwuchsen, dann als eine natürliche Folge ihrer Freundschaft.
Im Foyer des Hotels prasselte ein Feuer. Ein kahlköpfiger Mann mit Brille und Flanellhemd saß davor und las ein Buch, und Kendra beäugte ihn argwöhnisch. Unter den gegenwärtigen Umständen war sie bereit, jeden für einen möglichen Spion zu halten. Sie wünschte, Seth wäre bei ihnen und könnte nach unsichtbaren Feinden Ausschau halten.
Als Tanu sie gerade an der Rezeption eincheckte, rief jemand plötzlich Kendras Namen quer durchs Foyer. Sie drehte sich um und sah Gavin mit einem herzlichen Lächeln auf sie zukommen. Als er sie erreichte, umarmte er sie kurz. Ein Teil von ihr wünschte, die Umarmung hätte länger gedauert.
Er schien noch besser auszusehen als bei ihrer letzten Begegnung. Sein von Natur aus dunkler Teint war noch eine Spur brauner, seine Wangen irgendwie kantiger. Er war nach wie vor schlank und drahtig und bewegte sich mit der selbstbewussten Anmut eines Tänzers. War er ein paar Zentimeter gewachsen?
»Schön, dich zu sehen«, sagte Kendra und versuchte, unbeschwert und lässig zu wirken.
»Ich hab gehört, du bist e-e-e-entführt worden«, stotterte Gavin.
»Hat sich anscheinend herumgesprochen. Aber wie du siehst, bin ich nochmal davongekommen.« Sie warf einen Blick auf den Mann, der in dem Buch las. War es klug, sich in seiner Nähe zu unterhalten?
»Das ist Aaron Stone«, sagte Gavin. »Er ist ein Ritter und unser Hubschrauberpilot.«
Ohne von seinem Buch aufzuschauen, grüßte Aaron mit zwei
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