Die Zuflucht der Drachen - Roman
konnte, wieder allein zu sein, erwog Seth, in den Rucksack zurückzukehren. Hätte er damit gerechnet, dass es in der Feste von Spionen nur so wimmelte, wäre er in seinem Versteck geblieben. Aber das wirre Geflüster war nicht verstummt, und jetzt, da er schon einmal dabei war, wäre es jammerschade, nicht zu beenden, was er begonnen hatte. Es hatte sich nicht so angehört, als wäre einer der beiden Sprecher die Treppe hinuntergegangen, also ging Seth vorsichtig weiter. Mit dem Fuß tastend fand er die erste Stufe und begann hinabzusteigen.
So unauffällig wie irgend möglich bewegte sich Seth durch die Dunkelheit. Er ging zwei lange Treppen hinunter, durch eine Tür, einen Gang entlang, durch eine zweite Tür und eine Wendeltreppe hinab. Die ganze Zeit über wurde das Flüstern immer lauter, bis er sich fragte, ob er andere Geräusche überhaupt noch würde hören können.
Schließlich ertasteten seine Hände eine schwere Eisentür mit einer rauen, rostig abblätternden Oberfläche. Seine Finger entdeckten einen Riegel, und die Tür öffnete sich mit einem lauten Scheppern und Quietschen. Das Geräusch machte Seth unbehaglich. Für andere, die das Getuschel nicht wahrnehmen konnten, war der Lärm womöglich weithin zu hören gewesen.
Mit hämmerndem Herzen blieb Seth in der Tür stehen, bis er genug Mut gesammelt hatte weiterzugehen. Die Schwärze vor ihm erschien ihm zu bedrohlich und zu sehr von Geräuschen erfüllt, also zog er seine Taschenlampe wieder hervor. So tief unten in der Feste bestand kaum Gefahr, dass das Licht aus irgendwelchen Fenstern drang. Der Lichtschein erhellte einen kurzen Gang, der zur gewölbten Wand eines nur teilweise sichtbaren Raums führte. Vorsichtig ging Seth weiter und gelangte in eine ovale Kammer mit einem runden Loch im Boden, eine düstere Öffnung von unergründlicher Finsternis. Die flüsternden Stimmen kamen aus dem Abgrund, sie zischten, drohten und bettelten. Eine durchdringende Kälte ließ Seth das Mark gefrieren.
Kein Geländer sicherte das Loch ab. Hätte er die Taschenlampe nicht angehabt, wäre Seth vielleicht hineingefallen. Der Gedanke jagte ihm einen kalten Schauer über den Rücken. Das Loch maß vielleicht drei Meter im Durchmesser, der ganze Raum nicht mehr als zehn. Eine lange, verrostete Kette schlängelte sich über den Boden und war hie und da zu schweren Haufen aufgerollt. Das eine Ende war in der Wand verankert, das andere lag lose in der Nähe des brunnenartigen Abgrunds.
Seth näherte sich dem Rand des Lochs, nahm die Finger von der Taschenlampe und leuchtete nach unten. Er konnte weit sehen, aber der Strahl reichte nicht bis zum Grund hinab. Als das Licht ungehindert in die Tiefe drang, schwoll das Geflüster sofort zu einem wilden Lärmen an.
»Ruhig!«, murmelte er.
Das Geflüster brach ab.
Die plötzliche Stille wirkte viel beunruhigender als der Lärm zuvor. Ein lauer Windhauch wehte aus den Tiefen des Lochs herauf.
Besorgt, dass die Besitzer der Stimmen ihn sehen konnten, schaltete Seth die Taschenlampe aus, und der Raum versank in undurchdringlicher Dunkelheit.
»Hilf uns«, wisperte eine klagende Stimme, die wie die eines Verdurstenden klang. »Erbarmen.«
»Wer bist du?«, flüsterte Seth zurück und versuchte ein Zähneklappern zu unterdrücken.
»Wir sind jene, die in die Tiefen verbannt wurden«, antwortete die dürstende Stimme.
»Welche Hilfe könnte ich …«
»Die Kette!«
Ein Chor weiterer schauerlicher Stimmen wiederholte die Bitte. »Die Kette, die Kette, die Kette, die Kette.«
Seth räusperte sich. »Ihr wollt, dass ich die Kette losmache?«
»Wir werden dir tausend Jahre lang dienen.«
»Wir werden dir jeden Wunsch erfüllen.«
»Du wirst nie wieder eine Niederlage hinnehmen müssen.«
»Du wirst keine Furcht mehr kennen.«
»Alle werden vor dir niederknien.«
Weitere Stimmen fügten Versprechungen hinzu, bis Seth keine Einzelheiten mehr heraushören konnte.
»Ruhe«, verlangte Seth. Die Stimmen gehorchten. »Ich kann euch nicht verstehen, wenn ihr alle gleichzeitig redet.«
»Weiser Fürst«, begann eine schnarrende Stimme, während alle anderen schwiegen, »wir haben jedes Gefühl für Zeit und Ort verloren. Wir haben diesen Abgrund nicht verdient. Wir brauchen die Kette. Lass die Kette herab. Wo bleibt die Kette?«
Andere geisterhafte Stimmen fielen in den Ruf ein. »Die Kette. Die Kette. Die Kette …«
»Psst«, sagte Seth. Wieder verstummten die Stimmen. »Wir spielen jetzt das Schweigespiel. Der
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