Die Zuflucht der Drachen - Roman
verströmte eine bedrückende Atmosphäre. Der wehrhafte Komplex, ursprünglich dazu gedacht, eine kleine Armee zu beherbergen, erschien ihr zu groß und zu leer. Es gab zu viele Brustwehren, zu viele düstere Fenster- und Mauernischen, zu viele Orte, an denen man sich verstecken konnte. Sie konnte nicht umhin, sich zu fragen, ob sie vielleicht beobachtet wurde. Während ihre Freunde tiefer in die unnachgiebige Erde gruben, verstärkten gespenstische Echos die Geräusche ihrer Arbeit. Kendra suchte die Mauern ringsum nach feindseligen Augen ab.
Sie musste an Simrin denken. Einige Stunden zuvor hatte sie beobachtet, wie die Schlangenfrau direkt an der Mauer zu einem schmalen Sims hinaufgeklettert war. Wie ein Gecko hatte sie sich die senkrechte Fläche hinaufbewegt, ohne sich festzuhalten, die Hände einfach flach auf den Stein gelegt. Spähte Simrin in ebendiesem Moment von einem verborgenen Aussichtsposten auf sie herab und spionierte sie aus, bereit, ihre Beobachtungen an die Drachen weiterzugeben?
Im Laufe des Tages war Kendra noch anderen Kreaturen als dem Minotaurus, der Schlangenfrau und dem Alketaur begegnet. Sie hatte einen riesigen, buckligen Oger mit fleischigen Unterarmen und runzligem Gesicht gesehen, wie er mit einem Amboss unterm Arm einen Innenhof durchquert hatte. Das eine Auge des plumpen Ungetüms war größer gewesen als das andere, und sein schorfiger kahler Kopf wurde von dünnem gelbem Haar umrahmt. Außerdem war ihr ein kleiner Mann aufgefallen – er war ihr höchstens bis zur Taille gegangen –, der wie ein Grashüpfer auf schlanken Beinen umhergesprungen war. Wer konnte sagen, welche weiteren außergewöhnlichen Gehilfen Agad in seinen Dienst genommen hatte?
»Der Grabstein reicht tiefer in die Erde, als man erwarten würde«, keuchte Trask.
»Sind schon irgendwelche Schriftzeichen aufgetaucht, Kendra?«, fragte Gavin.
Kendra ging in die Hocke und sah die ersten Zeilen einer Nachricht. »Ja.« Sie holte Stift und Papier heraus, denn sie hatten beschlossen, dass sie die Inschrift besser aufschreiben sollte, damit sie den Inhalt nicht draußen im Freien besprechen mussten.
Trask und Gavin ächzten, während sie kratzend und schabend immer tiefer in die Erde vordrangen und den Grabstein weiter freilegten. Trask sprenkelte noch mehr von Tanus Trank auf den Boden, und Gavin begann, die Erde mit einem kleinen Pickel zu bearbeiten. Ein kurz aufblitzendes Licht ließ Kendra nach oben blicken, und sie sah den Schweif einer Sternschnuppe über den Himmel jagen.
Als endlich die gesamte Botschaft enthüllt war, umgab ein Ring aus Steinen und Erde das große Loch. Schweiß glänzte auf Trasks kahlem Kopf. Obwohl die Inschrift in kleinen Buchstaben geschrieben war, konnte Kendra sie ohne Mühe lesen. Sie setzte sich an den Rand des Lochs und schrieb die Worte ab.
Der Gegenstand, den ihr begehrt, ist ein eisernes Ei von der Größe einer Ananas, dessen obere Hälfte mit Ausbuchtungen versehen ist. Er ist zusammen mit anderen Dingen, die den Drachen heilig sind, in der Schatzkammer des geheimen Drachentempels versteckt. Der Zugang ist schwer bewacht. Ein Erfolg ist unwahrscheinlich. Nehmt keine weiteren Gegenstände aus der Schatzkammer mit. Schenkt den Panzerhandschuhen keine Beachtung. Feindschaft mit Drachen ist nicht auf die leichte Schulter zu nehmen. Erzählt keinem Drachen, dass ihr den Tempel sucht, auch nicht Agad. Eine Wegbeschreibung zum Tempel ist beim Schrein der Feenkönigin an den Fällen des geteilten Schleiers zu finden.
»Ich bin so weit«, sagte Kendra und faltete den Zettel zusammen.
Trask und Gavin machten sich daran, das Loch wieder zuzuschaufeln und Steine und Erde, so gut sie konnten, wieder so aufzuschichten wie zuvor. Während sie wartete, las Kendra die Nachricht mehrmals. Bisher hatte sie keine einzige Fee gesehen, und Kendra hätte nicht für möglich gehalten, dass die Feenkönigin hier im Sanktuarium einen Schrein hatte. Wie es schien, hätte sie also sowieso mit den anderen kommen müssen, ob Agad ihr nun erlaubt hätte, in der Feste zu bleiben oder nicht. Denn wenn der Schrein der Feenkönigin in Wyrmroost auch nur die geringste Ähnlichkeit mit dem in Fabelheim hatte, war Kendra die Einzige, die ihn betreten und lebend wieder verlassen konnte.
Sie versuchte sich gar nicht erst vorzustellen, welche Hindernisse auf sie warten mochten, wenn es ihnen gelang, den Drachentempel zu finden. Schon jetzt war allzu klar, dass Patton sein Ziel, den Translokator schwer
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