Die Zuflucht der Drachen - Roman
Friedhof von Diamanten übersät. Irgendwann trieb die aufkommende Brise die ersten drohenden Wolken vor die Sonne und dämpfte das Licht, sodass der Friedhof kalt und trostlos wirkte. Hier und da sorgten Blumen und kleine Grablichter für Farbtupfer auf den schneebedeckten Gräbern.
In dunkelblauem Anzug und mit ordentlich gekämmtem Haar saß Seth mit auf die Knie gelegten Händen da, den Rücken an einen knapp drei Meter hohen Obelisken gelehnt. Sein Jackett bot nicht viel Schutz gegen die Kälte, aber Seth merkte es kaum. Soeben war seine Schwester neben ihren Großeltern, den Larsens, im Familiengrab zur letzten Ruhe gebettet worden. Seth hatte seinen Eltern leise mitgeteilt, dass er einige Minuten allein sein wollte.
Keine Tränen sammelten sich in Seths Augen. Es kam ihm so vor, als hätte er im Lauf der letzten Tage genug Tränen für ein ganzes Leben vergossen. Sein Körper fühlte sich ausgedörrt an und taub, als wären alle Gefühle aus ihm herausgewrungen worden.
Von hinten näherten sich knirschende Schritte durch den vereisten Schnee. Einen Moment später stand Opa Sørensen vor ihm, die Hände in den Taschen. »Wie kommst du klar, Seth?«
Seth hielt den Blick auf Opas Schuhe gerichtet. »Wird schon wieder. Und wie geht’s dir?« Sie hatten bisher noch keine Gelegenheit gehabt, richtig miteinander zu reden. Opa und Oma Sørensen waren gerade noch rechtzeitig zum Gottesdienst eingetroffen.
»Du kannst es dir denken«, seufzte Opa. »Das Ganze ist ein fürchterlicher Albtraum. Wir haben uns alle Mühe gegeben zu rekonstruieren, was da passiert ist.«
Seths Kopf fuhr hoch. »Habt ihr irgendwelche Spuren gefunden?« Denn das war es, was er brauchte. Alle suhlten sich nur im Schmerz ihres Verlusts. Er wollte Antworten.
»Ein paar. Wenn du wieder so weit bist, kann ich dir …«
»Ich bin so weit«, versicherte Seth. »Ich muss wissen, wie und warum es passiert ist.«
Opa nickte. »Ein paar unserer Freunde sind in das Leichenschauhaus eingebrochen und haben an Kendra eine inoffizielle Autopsie vorgenommen. Es scheint, dass sie es wirklich ist. Zumindest kein Wechselbalg. Wir können noch immer nicht ergründen, welche Form von Gedankenkontrolle hier am Werk gewesen ist.«
»Sie war nicht sie selbst«, erklärte Seth. »Das alles war nicht Kendras Werk.«
»Da bin ich mir sicher«, pflichtete Opa bei. »Und Warren genauso. Der Leiter des Kinderhorts, in dem sie ehrenamtlich gearbeitet hat, Rex Tanner, wurde am Wochenende tot in seiner Wohnung aufgefunden. Weißt du etwas über ihn?«
»Gar nichts. Aber das klingt ziemlich verdächtig.«
»Wir können wohl davon ausgehen, dass, was immer Kendra zugestoßen ist, seinen Ursprung im Kinderhort hatte. Aber die Spur ist kalt.« Opa blickte sich um, dann winkte er mit einem Arm. »Deine Eltern sind gegangen. Ich habe ihnen gesagt, dass ich dich nach Hause bringen würde. Sie waren nicht in der Verfassung zu widersprechen. Ich möchte, dass du jemanden kennenlernst.«
Seth hörte erneut Schritte näher kommen, diesmal viel verstohlener als die Opas. Sie raschelten eher im Schnee, als dass sie knirschten. Ein kahlköpfiger Schwarzer in einem langen Ledermantel und dunklen, glänzenden Stiefeln kam um den Obelisk herum. Verschneite Grabsteine spiegelten sich in seiner Sonnenbrille.
»Seth, das ist Trask«, stellte Opa den Mann vor. »Er ist Detektiv und ein Ritter der Morgenröte. Er wird uns helfen, dieser Sache auf den Grund zu gehen.«
»Sie sehen echt wie ein richtiger Detektiv aus«, bemerkte Seth. »Fahren Sie auch Motorrad?«
Trask sah ihn an. »Ich bedaure deinen Verlust.« Seine Stimme klang durch und durch sachlich.
»Haben Sie schon irgendetwas herausgefunden?«
Trask schaute Opa an. Der nickte. »Ich habe die letzten zwei Tage in Monmouth in Illinois verbracht.«
»Die Adresse auf dem Brief«, erinnerte sich Seth.
»Ich habe ein Auge auf das dortige Postamt gehabt. Außerdem habe ich einige Zeit am örtlichen College verbracht und die Stadt und das umliegende Gebiet erkundet. Hübscher Ort. Bisher haben wir nichts in der Hand. Ich habe einen Mann dagelassen, der das Postamt im Auge behält.«
»Ich bin froh, dass Sie der Spur mit dem Brief nachgegangen sind«, sagte Seth.
»Wir bleiben weiter an der Sache dran«, versprach Trask. »Ich möchte aus erster Hand hören, was dir alles am Benehmen deiner Schwester aufgefallen ist.«
Seth berichtete, wie sich Kendra beim Frühstück verhalten hatte, dass sie frühzeitig aus dem Kinderhort
Weitere Kostenlose Bücher