Die Zuflucht der Drachen - Roman
ist voll funktionsfähig. Wir wollen lediglich wissen, ob du es überlebst, ihn zu benutzen.«
Kendra warf einen schnellen Blick auf die vielen Gesichter, die auf sie gerichtet waren. »Wie meinen Sie das?«
»Dies ist das Artefakt der Sicht, Kendra. Mit ihm kannst du überall hinschauen, kannst alles betrachten.«
»Warum benutzen Sie es dann nicht, um die übrigen Artefakte selbst zu finden?«
»Die meisten Menschen sind den gewaltigen Sinneseindrücken, die der Okulus bereithält, nicht gewachsen. Er hat bereits vier unserer besten Leute in eine katatonische Starre versetzt. Da wir wissen, dass dein Geist durch deine Feenartigkeit vor gewissen Formen der Magie geschützt ist, wollen wir herausfinden, ob es dir besser ergeht als den anderen.«
»Ich weigere mich«, stellte Kendra klar.
»Wenn wir dich zwingen, die Hand auf die Kugel zu legen, Kendra, wird sie deinen Geist in die Knie zwingen. Aber wenn du freiwillig mitmachst und ich dich führe, besteht eine Chance, dass du überlebst.«
»Wenn Sie mein Gehirn braten, werden Sie niemals erfahren, was ich über die Artefakte weiß.«
»Wir wissen schon sehr viel«, erwiderte der Sphinx. »Die Stechbulbus-Kopie, die wir von dir geschaffen haben, hat uns eine ausführliche E-Mail gesendet. Sie hatte den Verdacht, dass man ihr auf dem Rückweg vom Briefkasten gefolgt ist, daher ist sie das Risiko eingegangen und hat uns zusätzlich eine E-Mail geschickt, in der stand, dass dein Großvater den Chronometer in Fabelheim aufbewahrt und Patton Burgess dort Hinweise bezüglich einiger der verbleibenden Artefakte hinterlassen hat. Wir wissen, dass diese Hinweise in einem versteckten Raum hinter der Halle des Grauens im Kerker von Fabelheim auf uns warten. Wir haben einen Plan, die Informationen an uns zu bringen, und sind bereits dabei, ihn in die Tat umzusetzen. Die Stechbulbus-Kopie konnte sich nicht genau erinnern, wie man sich Zutritt zu dem Raum verschafft; ihr Erinnerungsvermögen hat stets gewisse Lücken. Ich würde diese Information jedoch liebend gerne an mich bringen, wenn du über sie verfügst – das Passwort oder die Funktionsweise des Öffnungsmechanismus –, aber wir werden auch ohne deine Hilfe in diesen Raum gelangen. Ich würde mich freuen, wenn du dabei hilfst, das Tagebuch zu übersetzen, auch wenn wir ohnehin jemanden finden werden, der die entsprechende Sprache lesen kann. Doch vor allem will ich herausbekommen, ob du den Okulus überlebst. Er ist womöglich das mächtigste der fünf Artefakte. Ihn zu bemeistern, ist meine oberste Priorität. Ich bin optimistisch, dass du es schaffen wirst.«
Kendra wusste nicht, was sie sagen sollte.
»Überlege selbst, Kendra«, fuhr der Sphinx fort. »Wenn es dir gelingt, den Okulus zu benutzen, kannst du überall hinschauen, alles erfahren, und wir werden nichts davon mitbekommen. Du könntest an Wissen gelangen, das dir hilft, uns zu entfliehen oder uns bei der Suche nach dem nächsten Artefakt zuvorzukommen. Es gibt schon in deinem eigenen Interesse jede Menge Gründe für dich hineinzuschauen. Es eröffnen sich unendliche Möglichkeiten.«
»Warum geben Sie mir dann eine Gelegenheit dazu?«, wollte Kendra wissen. »Damit Sie die Informationen später aus mir herausfoltern können?«
»Genau in diesem Moment befindet sich ein Mann hier auf dem örtlichen Postamt und beobachtet das Postfach 101 in der Hoffnung, einen Mörder abzufangen. Dieser Mann ist im Auftrag deiner Großeltern hier und hofft, die Leute zu fangen, die ihre Enkeltochter getötet haben. Ich weiß, wie der Mann aussieht. Ich will, dass du den Okulus benutzt und mir diesen Mann in allen Einzelheiten beschreibst. Das ist der erste Test. Wirst du es freiwillig versuchen?«
»Da können Sie lange warten«, zischte Kendra.
Der Sphinx warf seinem Diener einen kurzen Blick zu. Mr Lich packte Kendra direkt unterhalb des Ellbogens am Arm, zerrte sie aus ihrem Stuhl und senkte ihre widerstrebende Hand Richtung Okulus.
»Warten Sie!«, schrie Kendra. »Ich werde es tun! Zwingen Sie mich nicht. Ich werde es tun.«
»Jetzt?«, fragte der Sphinx.
»Jetzt.«
Der Sphinx nickte, und Mr Lich ließ sie los. Kendra kniete sich neben den Tisch und betrachtete die kunstvollen Facetten der Kristallkugel.
»Am besten, du schließt die Augen«, wies sie der Sphinx an. »Der Okulus wird dein Sehorgan werden. Myriaden von Bildern werden um deine Aufmerksamkeit wetteifern. Deine Aufgabe wird es sein, dich davon nicht beirren zu lassen und deinen Blick
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