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Die Zuflucht der Drachen - Roman

Die Zuflucht der Drachen - Roman

Titel: Die Zuflucht der Drachen - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Penhaligon Verlag: Verlagsgruppe Random House GmbH
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auf das Postamt zu konzentrieren. Finde den Mann. Lass dich von den vielen optischen Eindrücken nicht verwirren. Wenn du die Kontrolle verlierst, darfst du die Hand vom Kristall nehmen. Beschreibe, was du siehst, und ich werde dir helfen, dich zurechtzufinden.«
    »Und wenn ich völlig ausklinke und wahnsinnig werde?«, fragte Kendra.
    »Dann gibt es eben ein weiteres Opfer in unserem Konflikt. Ich wünsche dir alles Gute. Entspanne dich und konzentriere dich jetzt.«
    Kendra holte tief Luft. Sie sah keine andere Möglichkeit. Zitternd streckte sie die Hand nach dem Kristall aus. Winzige Regenbogen zuckten durch die schimmernde Kugel. Als ihre Finger sie fast erreicht hatten, schloss Kendra die Augen.
    Sobald ihre Finger mit der kühlen Oberfläche in Berührung kamen, konnte sie sehen, als hätte sie die Augen wieder geöffnet, obwohl sie deutlich spürte, dass sie immer noch geschlossen waren. Sie starrte den Sphinx an. Dann merkte sie, dass sie auch Mr Lich hinter sich stehen sehen konnte, als besäße sie ein zweites Paar Augen im Hinterkopf. Nein, mehr als das. Sie konnte vorwärts- und rückwärtsschauen, nach oben und nach unten, nach links und nach rechts, und das alles gleichzeitig. Es gab keine blinden Flecken.
    »Ich kann in alle Richtungen sehen«, sagte Kendra.
    »Gut«, ermutigte sie der Sphinx. »Schau weiter, und dein Gesichtsfeld wird noch größer werden.«
    Er hatte recht! Jetzt konnte sie nicht nur in alle Richtungen sehen, sie konnte sich auch selbst sehen, als hätte sie Augen außerhalb ihres Körpers. Sie konnte den Sphinx von vorn sehen, von hinten, von oben und von der Seite. Sie konnte den Raum aus hunderten verschiedener Winkel sehen, nicht zerstückelt oder in kleine Facetten unterteilt, sondern als Teil eines einzigen nahtlosen, das Bewusstsein sprengenden Bildes. Bei dem Versuch, die Perspektive zu begreifen, wurde ihr schwindlig.
    »Jetzt kann ich den Raum aus allen Richtungen sehen«, erklärte Kendra.
    »Du kannst auch über den Raum hinausschauen«, sagte der Sphinx.
    Kendra versuchte, ihre Sicht auf den Flur auszudehnen. Ihr Gesichtsfeld dehnte sich plötzlich aus und traf sie mit einem Gefühl, das sie an Höhenangst erinnerte. Kendra konnte jetzt jeden Raum im Haus aus verschiedenen Blickwinkeln betrachten, als wäre ihr Geist an tausende von Überwachungskameras angeschlossen, aber statt von einem Bildschirm zum nächsten zu springen, sah sie durch alle Kameras gleichzeitig. Da war der Leopardenhai, der durch die Bibliothek streifte. Da war Torina, die sich in der Küche in die Zubereitung eines raffinierten Mittagessens vertieft hatte. Da waren Cody und Haden, die Schach spielten. Da waren Kobolde, die wie Ratten durch die Mauern des Hauses huschten. Es war schwer, sich auf etwas Spezielles zu konzentrieren, weil sie zu viel wahrnahm. »Ich sehe Torina in der Küche. Ich sehe das ganze Haus.«
    »Bewege deine Sicht nach draußen. Durchsuche die Stadt. Finde das Postamt. Finde den Mann.«
    Als sich ihr Gesichtsfeld über die Mauern des Hauses hinaus ausdehnte, fühlte sich Kendra wie bei ihrer ersten Achterbahnfahrt, nur dass der Waggon diesmal in alle Richtungen gleichzeitig zu stürzen schien. Ihre Perspektive dehnte sich weiter aus, sie betrachtete die Stadt von hoch oben und sah auf winzige Dächer hinab, während sie zugleich in den bewölkten Himmel hinaufstarrte. Und unter sich belebte Straßen ausmachte. Und in Häuser und Läden hineinblickte. Sie schaute in dampfende Abwasserkanäle, staubige Dachböden, düstere Garagen und überfüllte Schränke. Sie beobachtete jeden Menschen in der Stadt aus allen Winkeln gleichzeitig. Sie schaute in jeden Raum in jedem Gebäude. Sah das Innere und das Äußere eines jeden Autos. Und ihre Sicht dehnte sich immer noch weiter aus, unaufhaltsam jetzt. Sie blickte aus dem Weltraum auf Landmassen und Wolkenformationen hinab. Sie sah weitverzweigte Städte und all ihre Bewohner. Sie konnte jede kleine Nische in jedem Wolkenkratzer überwachen. Sie durchdrang Höhlen und Wälder und Ozeane. Sie sah Kühe, Rehe, Vögel, Schlangen, Insekten. Taschenratten wühlten sich durch den Boden. Drachen hockten auf hohen Felsspitzen. Sie sah in Krankenhäuser und Zirkuszelte und Gefängnisse. Sie sah die kahle Oberfläche des Mondes.
    Kendra war sich ihres Körpers nicht mehr bewusst. Auch den Kristall oder den Sphinx nahm sie nicht mehr wahr. Die Flut der Sinneseindrücke, die sie alles gleichzeitig und in Bewegung sehen ließ, hatte sie völlig

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