Die Zuflucht der Drachen - Roman
überwältigt. Es war zu viel – es war unmöglich, all diese verwirrenden Bilder auch nur ansatzweise zu verarbeiten. In jedem einzelnen Moment sah sie viel mehr, als sie während ihres gesamten Lebens erlebt hatte. Sie konnte ihren Blick nicht auf etwas Bestimmtes richten. Sie konnte nicht einmal klar genug denken, um es zu versuchen. Ihr bewusstes Denken hatte ausgesetzt, war von dieser unglaublichen Reizüberflutung ertränkt worden.
Dann bemerkte sie etwas, das so neu und strahlend war, dass es sie von allem anderen ablenkte. Ein wunderschönes, in Licht erstrahlendes Gesicht. Eine Verkörperung von Reinheit. Das Gesicht sah Kendra an – es schaute nicht nur in ihre Richtung, sondern irgendwie wusste Kendra, dass die strahlende Frau, im Gegensatz zu allen anderen, sie ebenfalls sehen konnte.
Lass den Kristall los .
Der Gedanke erreichte ihren Geist auf eigenartig vertraute Weise. Nicht über Worte. Es war eine Verständigung durch Gedanken und Gefühle, von Geist zu Geist, nicht von Mund zu Ohr. Kendra begriff, dass sie die Feenkönigin sah.
Lass den Kristall los.
Welchen Kristall? Dann erinnerte sich Kendra, dass sie einen Körper hatte. Sie befand sich in einem Raum mit dem Sphinx, der ein Experiment an ihr durchführte. Sie sah noch immer alles aus jedem Winkel, aber die Bilder rückten in die Ferne. Sie konzentrierte sich auf das strahlende, schöne Gesicht. Schwach und mit Hilfe vergessener Sinne konnte sie eine Stimme hören, die ihren Namen rief, und sie konnte spüren, dass ihre Finger etwas berührten.
Lass den Kristall los.
Kendra zog die Hand von der kühlen, gläsernen Oberfläche weg. Die Vision fand ein abruptes Ende, als hätte jemand den Stecker herausgezogen. Kendra sank auf die Ellbogen, blinzelnd und erstaunt darüber, wie eingeschränkt ihr Gesichtsfeld mit einem Mal war. Sie musste doch tatsächlich den Kopf drehen, um die erstaunten Gesichter um sie herum sehen zu können.
Der Sphinx beugte sich grinsend über sie. Seine Zähne schimmerten weiß. »Willkommen zurück, Kendra«, sagte er. »Du kennst mich doch, nicht wahr?«
»Nie wieder!«, keuchte Kendra.
Alle im Raum murmelten leise. Sie klangen erstaunt.
»Ich dachte, dass du vielleicht nichts sehen würdest. Dass deine Feenartigkeit deinen Geist von der Macht des Okulus abschirmen würde. Aber du hast alles gesehen und konntest alles erkennen.«
»Wohl kaum«, widersprach Kendra. »Ich habe jedes Gefühl dafür verloren, wo ich war und wer ich war. Es war einfach zu viel.«
»Es schien, als würdest du uns entgleiten, sobald du über das Haus hinausgeschaut hast«, drängte sie der Sphinx zum Sprechen.
»Es war wie der Versuch, von einem Tsunami zu trinken«, erklärte Kendra. »Wie lange war ich fort?«
»Zehn Minuten«, antwortete der Sphinx. »Du hattest schwache Zuckungen, wie die anderen. Wir hatten schon die Hoffnung verloren, dass du von allein zurückkehren würdest. Was hat dich zurückgebracht? Als du die Krämpfe bekommen hast, dachte ich, du würdest nun den Rest deiner Tage im Wachkoma verbringen.«
Kendra wollte ihm nichts von der Feenkönigin erzählen. Ihr Reich musste verborgen bleiben. »Meine Oma hat mich gesehen. Oma Sørensen. Sie hat mich gesehen, wie ich sie sah, und mir gesagt, ich soll den Kristall loslassen.«
Der Sphinx musterte Kendra. »Ich hatte keine Ahnung, dass Ruth hellseherische Kräfte besitzt.«
Kendra zuckte die Achseln. »Fazit: Sie wollen, dass ich das Ding noch einmal berühre. Gut, Sie werden mich dazu zwingen müssen, und bitte, tun Sie nicht so, als wüssten Sie nicht, dass Sie damit nichts anderes tun, als meinen Geist auszulöschen. Es war mir völlig unmöglich zu kontrollieren, was ich gesehen habe. Keine Chance, meinen Blick bewusst auf irgendetwas zu richten. Ich war einfach nicht mehr da.«
»Du hast deine Sache gut gemacht, Kendra«, erwiderte der Sphinx. »Wenn es auch kein direkter Erfolg war, war das Experiment doch aufschlussreich. Ich weiß jetzt, dass die Handhabung des Okulus deine Fähigkeiten übersteigt. Ich habe auch die anderen beobachtet, die es versucht haben. Du hättest ihren Zustand der Erregung unmöglich so präzise nachahmen können. Als der Okulus von dir Besitz ergriffen hat, das wahr echt. Es war für uns alle deutlich zu erkennen. Es ist bei dir sogar früher passiert als bei allen anderen.«
Kendra richtete den Blick auf den Okulus, der unschuldig auf dem Kissen glitzerte, als wäre er nur ein funkelndes Schmuckstück aus irgendeiner
Weitere Kostenlose Bücher