Die Zuflucht der Drachen - Roman
feststellen, dass er immer wieder die gleichen Korridore entlanglief. Eine bestimmte Kreuzung jedoch kam ihm zunehmend vertraut vor. Sie hatte fünf verschiedene Abzweigungen. Als er sie ein weiteres Mal erreichte, war Seth überzeugt, vier der fünf Möglichkeiten bereits ausprobiert zu haben. Also nahm er den einzigen Korridor, der noch blieb – und tatsächlich, nach zwei weiteren Abbiegungen sah er vor sich den Tunnel, der nach draußen führte.
Seth blickte auf seine Armbanduhr. Mehr als dreißig Minuten waren verstrichen, seit er den Rückweg angetreten hatte. Schwer atmend hastete er den stetig ansteigenden Gang hinauf, bis er die Grube erreichte. Über ihm schwebte der Riesenstein. Er war offensichtlich gerade dabei, seine neue Position einzunehmen. Die Grube war schon zu mehr als drei Vierteln wieder verschlossen, und der Megalith verdunkelte bereits das Licht der Fackeln auf dem Hügel.
Seth sah keine Zentauren. Leise kletterte er die dem Hügel abgewandte Seite der Grube hinauf, zögerte jedoch, kurz bevor er ganz oben angekommen war. Wenn er den richtigen Zeitpunkt erwischte, konnte ihm der Stein als Sichtschutz dienen. Wenn er den richtigen Moment allerdings verpasste, würde er im Dreck zerquetscht werden.
Der riesige Fels schwebte nun direkt über der Grube und begann sich zu senken. Seth kletterte vorsichtig über den Rand und hielt ganz still, während sich die Grube hinter ihm schloss. Vor ihm standen Tannenbäume, deren Nadeln gerade noch vom Licht der Fackeln am Hügel beleuchtet wurden. Der größte Teil des dazwischenliegenden Geländes wurde von dem Megalithen überschattet.
Seth kroch langsam vorwärts. Wenn er jetzt zu hastig vorging, würde er vielleicht entdeckt, und alles war umsonst.
Stück um Stück kamen die Tannen näher. Seth hielt kurz inne und schaute sich um. Die Zentauren standen auf ihren Posten und starrten finster in die Nacht. Sie schienen keinen Verdacht zu hegen, dass das Horn aus seiner Halterung entfernt worden war.
Sobald er den Schutz der Tannen erreicht hatte, stand Seth auf und rannte zum Rand des Sumpfs hinunter. Dort angekommen, sah er weder den Troll noch das Floß.
»Nero«, zischte Seth in die Dunkelheit. »Nero, ich bin zurück.« Er war versucht, mit seiner Taschenlampe das Wasser abzusuchen, entschied sich aber dagegen, da er nicht riskieren wollte, dass ein Zentaur das Licht bemerkte. »Nero!«, rief Seth, nun etwas lauter.
Eine Antwort aus der Dunkelheit vor ihm brachte Seth zum Schweigen. Stumm wartete er, bis er das Plätschern des Floßes hörte, und endlich konnte Seth auch den Troll sehen.
»Komm an Bord«, wisperte Nero.
Seth gehorchte und sprang. Das Floß schaukelte und ruckte unter seinem Gewicht, Wasser schwappte, und Nero nutzte den Schwung, um sie sogleich vom Ufer abzustoßen.
»Ich kann dich sehen«, flüsterte Seth.
»Die Morgendämmerung zieht bereits auf. Wir müssen schnellstens zu dem Golem zurückkehren. Wenn einer der Nebelriesen uns entdeckt, wird es kein gutes Ende nehmen. Hast du erreicht, was du wolltest?«
»Ich habe das Horn«, antwortete Seth. »Die Zentauren haben nichts gemerkt.«
Wie als Reaktion auf seine Worte ertönte das lange, tiefe Stöhnen eines fernen Horns. Andere Hörner antworteten, und ein sonores Klagen wehte über den Sumpf.
»Sie wissen Bescheid«, fauchte Nero und leckte sich ein Auge. Er stakte nun lauter und schneller durch den Sumpf. »Du bist jetzt auf der Flucht. Der Golem muss dich so schnell wie möglich in die Sicherheit eures Gartens schmuggeln.«
»Werden die Zentauren überall suchen?«, fragte Seth.
»Überall. Glücklicherweise können sie nicht übers Wasser laufen. Um dir auf den Pelz zu rücken, müssen sie erst außen um die Sümpfe herum. Wenn der Golem sich beeilt, sollte alles in Ordnung sein.«
Als sie Hugo erreichten, war der Himmel im Osten grau, und Seth konnte wieder einigermaßen gut sehen. Er sprang vom Floß ans schlammige Ufer. »Danke, Nero.«
»Mach, dass du fortkommst«, drängte der Troll.
»Nach Hause, Hugo! So schnell du kannst! Und lauf ja keinem Zentauren über den Weg!«
Der Golem nahm Seth rasch in die Arme und sprang zwischen den Bäumen davon.
KAPITEL 15
Hörner
K endra erwachte aus einem unruhigen Schlaf. Sie rollte sich auf die Seite und blinzelte ins graue Dämmerlicht, das durch das Dachbodenfenster fiel. Dann drehte sie sich wieder in die andere Richtung und schaute zu Seth hinüber, der in seinem Bett zusammengerollt lag und sich die Decke
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