Die Zuflucht
Gott tatsächlich den Menschen zuhörte, aber meiner Pflegemutter schienen diese Gebete sehr wichtig zu sein, und das genügte.
Ich sammelte mich einen Moment lang, dann ging ich hinüber ins Wohnzimmer, wo ich Edmund vorfand, der sich gerade die Schuhe anzog.
» Wohin gehst du?«, fragte ich.
» Ich habe dir für morgen neue Stiefel versprochen«, antwortete er.
» Aber deshalb musst du doch nichtâ¦Â«
» Sei nicht albern.« Damit ging er hinaus und schloss leise die Tür hinter sich.
Bleich hatte vom Sofa aus zugehört. Wenigstens schien die Salbe seine Wunden etwas geschmeidiger zu machen, denn er saà nicht mehr aufrecht wie ein Stock, sondern hatte die Ellbogen auf die Knie gestützt und starrte mich an, als wäre ich die Antwort auf alle Rätsel der Welt. Mein Puls beschleunigte sich.
» Er mag dich sehr gern«, sagte Bleich.
» In den ersten Wochen dachte ich, ich würde ihnen nur zur Last fallen, aber offensichtlich habe ich mich getäuscht.«
» Ich bin froh, dass du bei Menschen untergekommen bist, die dich aufrichtig lieben.«
Nachdem ich keine Gelegenheit auslieÃ, den beiden Kummer zu bereiten, wollte ich lieber nicht weiter über das Thema sprechen.
» Bist du müde?«, fragte ich stattdessen.
Er schüttelte den Kopf. » Es ist für eine ganze Weile das letzte Mal, dass wir ein paar Stunden nur für uns haben.«
» Bis zum Ende des Sommers vielleicht.«
Stille Momente wie dieser dürften während unserer Zeit auf dem Vorposten eher selten sein. An Knutschen war wahrscheinlich nicht zu denken, und ich fragte mich, ob ich vielleicht tatsächlich nicht ganz normal war. Ich könnte hierbleiben, in der Stadt und in Sicherheit, und mit Bleich noch viele Momente wie diesen erleben. Wir könnten im Mondschein spazieren gehen, auf der Schaukel Küsse und Geheimnisse austauschen, hätten Zeit für unendlich viel Zärtlichkeit. All das gab ich auf für Gefahr und Kampf ums nackte Ãberleben.
Aber die Jägerin in mir konnte einfach nicht anders.
» Dann lass uns das Beste aus dieser Nacht machen.« Bleich stand auf und streckte mir die Hand hin.
Ich musterte ihn im flackernden Kerzenschein, sah das Licht auf seinem rabenschwarzen Haar schimmern. Die zerzausten Locken umrahmten sein schmales Gesicht. Ich kannte es besser als mein eigenes. Ein verhaltenes Lächeln umspielte seine Mundwinkel und lieà ihn aussehen wie einen schalkhaften Jungen. Aber selbst in dieser verspielten Miene war immer noch die Wildheit zu erkennen, das Raubtier, das sich nur von mir berühren lieÃ. Ich nahm einen bebenden Atemzug und griff nach seinen Händen.
Ganz langsam schloss er mich in die Arme. Ob wegen der Narben auf seinem Rücken oder um mich nicht zu erschrecken, konnte ich nicht sagen.
Ich blickte in seine dunklen Augen, dieses unendliche Schwarz, umrahmt von genauso dunklen Wimpern. Zum ersten Mal fielen mir die violetten Ringe um seine Iris auf. Noch nie hatte mich jemand so angeschaut, so zärtlich und voll rückhaltloser Hingabe. Hätte er mich nicht geküsst, ich hätte die ganze Nacht lang so verharren können.
Sein Mund bewegte sich über den meinen, er knabberte an meinen Lippen, befühlte sie mit der Zunge. Ich spürte Funken in mir auffliegen, wie ein Feuer entzündeten sie mich. Er umfasste meine Hüfte und zog mich an sich. Ich war wie in Trance; trotzdem achtete ich darauf, mit den Händen nicht seinen Rücken zu berühren. Stattdessen legte ich meine Finger auf seinen Nacken, streichelte und massierte ihn.
Bleich presste mich so fest an sich, dass unsere Körper beinahe miteinander verschmolzen. Ich spürte seinen Herzschlag, als antwortete er auf meinen, als stimmten sie gemeinsam einen Trommelwirbel an. Mit hungrigen Lippen saugte er mich in sich auf, ich keuchte und seufzte, jede Faser meines Körpers reagierte auf ihn. Dann lieà er von meinem Mund ab und küsste mein Ohr, meinen Hals, und ich schnappte nach Luft.
» Ich glaube, wir hören besser auf«, keuchte ich.
Bevor ich noch vergesse, dass Jägerinnen sich nicht fortpflanzen.
Noch ein, zwei Minuten, und es wäre mir egal, wenn ein Balg mein Leben für immer veränderte.
Seine Hände zitterten, als er mich loslieÃ, und ich war erleichtert, weil er seine zarteren Instinkte offensichtlich genauso wenig im Griff hatte wie ich. Ich lächelte, um ihm zu zeigen,
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