Die Zukunft des Mars (German Edition)
wenn er nachts nicht schlafen könne und wach im Dunkeln liege, beschwöre seine Vorstellung selbsttätig, ohne dass der Wille das Geringste dazutun müsse, besonders schaurige Gestalten jener grandiosen Schauspiele herauf. Es war ein Lichttheater, das der Wichtigkeit aller zuvor gesehenen Guckkastendarbietungen mühelos den Garaus machte. Den alten Kopf im Kissen, denke er gern, ganz unblasphemisch, ja fast ein wenig fromm, der liebe Gott hätte im Ewigen Winter einen riesigen Hufeisenmagneten über das Gewölbe seiner Schöpfung geschoben, um alle in dieser schwarzen Schale enthaltenen Kraftpartikel noch einmal an den ureinst von seiner Hand gezogenen Sphärenlinien auszurichten. Alidchen, die bestimmt nicht wisse, was ein Magnet sei, solle sich diese Gottesarbeit am besten wie ein Radieren vorstellen, wie ein gründliches Hin-und-Her-Gerubbel, mit einem guten, weichen Gummi, in einem bis an die Ränder vollgeschmierten Schulheft, in der Kritzelkrakelkladde der inzwischen anders fortgeschriebenen Welt.
Elussa möge ihm sein Abschweifen und auch den einen oder anderen schiefen Vergleich verzeihen. Er komme gleich wieder auf die Zukunft, auf ihren zukünftigen Unterricht zu sprechen. Er sei nicht so weit abgeirrt, wie es den Anschein habe. Es gehe ihm ums Bild. Wer wolle, könne sich, solange es noch Zeugen gebe, erzählen lassen, wie selbstverständlich die Herstellung und Speicherung bewegter Bilder einst für jedermann gewesen sei. Von diesem Riesenüberfluss, von diesem uferlos gewordenen Strom hätten nur dünne Rinnsale und weit verstreute Tümpelchen die Magnetkur des Ewigen Winters überdauert.
Das sei nicht viel, aber erheblich mehr als nichts. Lustigerweise habe sich das älteste Speicherverfahren als das haltbarste erwiesen. Auf dunklen Streifen aus einem spröden Kunststoff seien einzelne Bilder in kleinen Kästchen eingefangen worden und dort mit bloßem Auge zu erkennen.Und wenn man diese Bänder, von einem Rad hinunter auf ein anderes, durch eine besondere Licht-Maschine schnurren lasse, ergieße sich bestimmt auch heute ein lückenloser Bildfluss auf eine weiße Wand. Er sammle schon eine Weile, habe inzwischen eine ganze Kiste voll mit kleinen und großen Spulen, besitze auch eine Projektionsmaschine, die aber leider nicht zum Format der bislang aufgetriebenen Filme passe.
Alide hatte zu rechnen aufgehört und kaute auf ihrem Bleistift. Elussa glaubte nicht, dass sie verstanden hatte, wovon der Alte sprach. Aber dann zog ihr Töchterchen den Stift aus den Zähnen, zeigte damit recht ungehörig quer über den Tisch auf Spirthoffer und fragte ihn ihrerseits, ob vielleicht auch die schönen Himmelsbilder, von denen er gesprochen habe, diese besonderen Wolken und die vielen bunten Blitze, in solchen Kästchen festgehalten worden wären. Das könnte doch passiert sein. Oder nicht? Vielleicht habe ein Mann, genauso klug wie Opa Spirthoffer, damals kapiert, was nötig war, und alles für später, für sie und andere Kinder, in solche Guckkästchen hineingesperrt.
Spirthoffers Film beginnt. Sie hätte nicht so heftig daran denken sollen. Jetzt, wo kein Buch als Halt und Schutz zur Hand ist, ist sie bereits den ersten noch blassen, noch separat voranruckenden Einzelbildern schutzlos ausgeliefert. Bevor der Himmel des Ewigen Winters, in dem Elussa von ihrer Mutter empfangen wurde, gleitende Gestalt annehmen kann, bevor die Blitze krachen und die Himmelswirbelstürme heulen, muss dies zum Stehen kommen. Da melden sich wie aus dem tiefsten Nichts ihr Nacken, ihre Schultern, ihre Hüften. Schmerzen gebieten den Bildern Einhalt. Knochen und Muskeln haben ihren Notruf empfangen. Das Wehtun verfeinert und verfestigt sich, verharrt an sicheren Stellen, nimmt Raum ein, hakt sich auf einem Weltgrund und zugleich an seinem angestammten Kopf-Ortfest. Das sind die beiden Ankerspitzen seiner Wirklichkeit.
Es hilft. Es hat geholfen. Und es verspricht ihr weiterhin zu helfen. Das Glück der eigenen Schwere, den Seelenjubel über die jähe Heimkehr des Gewichts kann der Schmerz nicht schmälern. Jetzt, wo sie sich über das wiedergewonnene Unten freut, drückt es sie spitz in Haut und Fleisch. So weh dies tut, so will sie weiter kommen. Heftig zuckt sie mit beiden Beinen, spürt, dass die nackten Sohlen gegen etwas Schweres stoßen, hört dieses Ding knirschend ein kleines Stück beiseiterollen. Und plötzlich springen ihr wie Gummifalze die Lider auseinander. Das da ist gutes, echtes Außen, grau und orange
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