Die Zukunft des Mars (German Edition)
nannten das, was jeden Abend bis zu ihrem Einschlafen und dann wieder frühmorgens in den vergilbten Steckdosen bereitstand, nur «das Licht», und auch bei denen, die sich noch an den einstigen Stromüberfluss erinnern konnten, begann sich dieser Name allmählich gegen die frühere Bezeichnung durchzusetzen.
Umann hatte sogar damit begonnen, Eurorubel für die Anschaffung eines eigenen Lichtradios beiseitezulegen. In der letzten der beiden abendlichen Stromstunden wurde über die Leitungen auch ein Radioprogramm übertragen. Beim feierlichen Abschluss der Versorgungsvereinbarung erhielt der jeweilige Friedensrichter ein Gratis-Empfangsgerät und verpflichtete sich im Gegenzug, einen allgemein zugänglichen Lichtradio-Saal einzurichten. In Umanns Straße war ein ehemaliger Supermarkt mit Stühlen, Sesseln und alten Sofas bestückt worden. Abend für Abend war dieser Radiosaal bis in den letzten Winkel voll. Die ersten Takte jedes einzelnen Musikstücks gingen in Beifall unter, in einem rhythmischen Klatschen, das der Applaus am Ende der Nummer dann noch an Stärke und Länge übertraf. Und die Stimme des Don, der alle Titel ansagte und meist auch den Interpreten zu nennen wusste, ließ nach dem Verklingen der Lieder eine kluge kleine Pause, um diesen Ausbrüchen der Freude gebührend Raum zu schaffen.
Wie den meisten Älteren stießen Umann, lachend und klatschend, irgendwann unweigerlich die Tränen in die Augen, bei irgendeinem türkischen Schlager, einer indischen Filmmelodie oder einer ukrainischen Volksweise, also meist während eines Musikstücks, mit dem er nicht den Schimmer einer Erinnerung verband. Für den Rest sorgten die Weltnachrichten, die der Don stets ganz zuletzt, unmittelbar vor dem flackernden Verlöschen der Saalleuchtröhren einsprach. Nicht wenige, die der Guten Alten Zeit, verantwortlich handelnd, ihren Lauf scheinbar gestaltend, teilhaftig gewesen waren, begannen dann zu schluchzen, und die wieder reichlich vorhandenen kleinen Kinder, die deutlich geringere Schar der Halbwüchsigen und die wenigen Frauen und Männer, die während des Ewigen Winters gezeugt worden waren, staunten mit offenem Mund über beides: über die feierlich beschworene Existenz der beiden Amerika, derjapanischen Inseln, des afrikanischen, des noch märchenhafteren australischen Kontinents und über die hemmungslosen Klagelaute ihrer sonst eher zu Verschlossenheit neigenden alten Nachbarn.
Die Glocken schlugen Mitternacht, und der Don fasste den Entschluss, sich nicht weiter zu ärgern. An Schlaf war allerdings, wie so oft, nicht zu denken. Also rief er noch einmal Juri herein, dankte ihm für die gute Arbeit, trank sogar ein Gläschen Alt-Wodka mit ihm und schickte ihn für den Rest der Nacht ins Bett. Juri hatte sich heute erneut mehr als nur Lob verdient, und der Don erwog, ob nicht endlich die Zeit für die Einführung einer festen Auszeichnung, für einen Dreifaltigkeitsstern oder ein Dreifaltigkeitskreuz, gestuft in Eisen, Silber und Gold, gekommen sei. Noch vor einem Jahr wäre eine Funkkonferenz mit den beiden anderen Machthabern der Stadt, mit den zwei anderen Gnädigen Brüdern, wie sie sich seit dem letzten Friedensschluss nannten, unvorstellbar gewesen. Neunzig Minuten lang hatten Ton und Bild nahezu keine Störung aufgewiesen. Wahrscheinlich wäre das Verbindungsdreieck, das ihrem Bruderbund erstmals einen gemeinsamen medialen Raum eröffnete, sogar zwei volle Stunden lang stabil geblieben.
Das Gespräch war außerordentlich gelassen, fast beschaulich vonstattengegangen. Aber der Don hatte bald einsehen müssen, dass es zurzeit nicht möglich war, ein Einvernehmen über die gleichzeitige Wiederaufnahme der Versorgung mit Gas zu erzielen. Dabei waren seine Leute technisch so weit. Die Schäden an der Anlage im alten Flusshafen hatte man vollständig behoben, die verbesserten Schlamm- und Fäkalienaufbereitungskessel lieferten zudem ein deutlich energieträchtigeres Faulgas als zuvor. Achtzig Prozent Methan! Außerdem hatten alle drei Parteien das gaslose Jahr dazu genutzt, Lecks in den zuletzt betriebenen Leitungsabschnittenzu schließen. Eine satte Stunde akzeptablen Gasdrucks um die Mittagszeit oder am Abend ließ sich garantieren. Kochgas für mehr als dreißig Straßen der alten Stadtmitte, deren Territorium sie sich, zumindest in den letzten beiden Jahren, annähernd brüderlich geteilt hatten.
Der Don hatte offeriert, zunächst die Hälfte, binnen Jahresfrist sogar zwei Drittel seiner Produktion
Weitere Kostenlose Bücher