Die Zunge Europas
zusammen gewesen. Vielleicht das Schönste: Sie hatte mir das Gefühl gegeben,mir meinen wahren Wert beizumessen, was auch immer das genau sein mochte, ich habe es damals wirklich so empfunden. Vor Sonja: Die anderen tanzen, und ich stehe in der Ecke, was von ihnen herüberweht, ist schmerzlicher Duft. Als wir dann zusammen waren, begann eine wunderbare Zeit, eine Zeit, für die man große Garderobe erfunden hat.
Wir haben uns genauso wenig wie alle anderen vorstellen können, dass es einmal so werden würde, wie es jetzt ist. Wann immer einem der Blick hinter die Kulissen gestattet wird: nichts als Elend, alltägliches, dürftiges, lächerliches Elend. Es gibt kein großes Leiden mehr, sondern nur noch einen Riesenhaufen kleines, nichtssagendes Unglück. Alexandra und Hajo sind das einzige Paar, von dem ich überzeugt bin, dass sie glücklich sind. Ausgerechnet Alexandra und Hajo, die seit geschlagenen fünfzehn Jahren zusammen sind. Fünfzehn Jahre, muss man sich mal vorstellen! Kann man sich nicht vorstellen. Die beiden leben heute in der Schweiz, Hajo ist mit dreiunddreißig bereits VW L-Professor . Vielleicht sind die beiden ja auch keine gewöhnlichen Leute, sondern Wundermenschen, vom lieben Gott oder sonst wem auf die Erde geschickt, damit der Weltglückspegel nicht ins Bodenlose fällt.
Für alle anderen gelten normale Maßstäbe, von gefühllosen Biologen tausendmal berechnet: Der sexuelle Brennstoff reicht für drei bis maximal sechs Jahre, die Zeit, nach der die Brut aus dem Gröbsten raus ist. Hätte ich jemals Tagebuch geschrieben, die Wahrheit würde wahrscheinlich schnell herauskommen: der Beginn der Verformung, daszähe Ausharren in einer verstopften Lebensnische: nach exakt drei Jahren.
Doch unser damaliges Glück hat einen unstillbaren Nachdurst hinterlassen, die Erinnerung daran, wie es einmal gewesen ist, bleibt, und die Sehnsucht danach. Eine Flut schöner Bilder schoss mir in den Kopf, an einen aus unerklärlichen Gründen
magischen
Besuch in Hagenbecks Tierpark (wir hatten uns vor dem Affenhaus ein bisschen betrunken und kamen aus dem Lachen nicht mehr heraus, warum, weiß ich auch nicht mehr) und an unsere erste gemeinsame Reise auf die Insel Föhr, na ja, drei Übernachtungen, eher ein Ausflug. An jede Minute kann ich mich erinnern, und das bei meinem löchrigen Gedächtnis. Ich habe immer noch den Geruch von geräucherter Makrele in der Nase, die wir jeden Tag am Hafen kauften. Dazu Meerrettich und Speckkartoffelsalat. Und Lumumba hatten wir getrunken, jeden Abend. Den Geschmack habe ich auch noch auf der Zunge. Lumumba haben wir seither nie wieder angerührt. Wieso eigentlich nicht? Schmeckt doch spitzenmäßig.
Jetzt, wo Sonja tief und fest schlief, drehte ich mich auf ihre Seite und umarmte sie. Löffelchenstellung. Früher Teelöffel, heute Esslöffel. Oder Schöpfkelle. Wenn ich sie so umarme, schiebe ich meistens meine Hand unter ihr T-Shirt und lege sie auf ihren Bauch. Obwohl wir beide zu dem Typus zählen, der der Zeit nicht standhält, hat sie einen wirklich schönen, flachen Bauch. Ich dehnte mit meinen Fingern ganz leicht ihre Rippen, das hat sie immer gern gehabt. Früher jedenfalls. Jetzt schlief sie, ich bin sicher, dass sie nichts dagegen hätte. Wir sind rücksichtsvollgenug, nicht an den Problemzonen des anderen herumzufummeln. Manchmal, wenn ich nachts aufwache, hat sie sich an mich geschmiegt, und ihre Hand liegt auf meinen Beinen. Meine Beine finde ich auch ganz okay. Die meisten Männer hätten, glaube ich, lieber dürre, krumme, kurze Beine und einen schönen Oberkörper als umgekehrt, Stichwort Holzhacken.
Sie machte wohlige Geräusche. Traurig, traurig, nur im Dämmer, im Halbschlaf, im Traum können wir uns nahe sein. Mit großen Gefühlen sind wir gestartet, mit ganz kleinen Gefühlen liegen wir im Bett und halten still. Das Geheimnis alter Paare: nicht schreien, stillhalten. Haferbrei. Stille Kost. Askese. Eigentlich heißt Askesis einfach nur Übung. Alles ist Übung. Vielleicht sollte man sich generell nur noch mit Menschen einlassen, von denen man sich notfalls ohne Schmerz wieder trennen kann.
Alles Mögliche kann einem im Leben passieren, und vor allem nichts. Manchmal kommt es mir seltsam vor, dass ich jemals versucht habe, glücklich zu werden. Der Mensch hat eine Vorliebe für Tragik, eine Voreinstellung, die sich im Lauf der Evolution bewährt hat. Man scheut das Risiko stärker, als man das Glück sucht, denn Verluste tun mehr weh als Gewinne
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