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Die Zunge Europas

Die Zunge Europas

Titel: Die Zunge Europas Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinz Strunk
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Taxifahrer halten. Aber wir gehen in keine Clubs. Da wir schon seit Ewigkeiten ohne jeden Ausdruck von Spannung und Geschlechtlichkeit existieren, wären wir ja bescheuert oder masochistisch oder beides, uns freiwillig da hinzubegeben, wo es um nichts anderes geht als um Spannung und Sex. Und
Fun
. Niemand käme auf die Idee, uns für ein Liebespaar zu halten. Ein Paar, vielleicht, ja, Bruder und Schwester, alte Schulfreunde oder politisch aktive, mitteljunge Leute auf dem Weg zur Bundesgala junger Vertriebener, treue Seelen, die Schlesien noch nicht vergessen haben. Sonja Maier und Markus Erdmann, zwei Namen, ein Programm, eine Schicksalsgemeinschaft, die im Deprimiertenstadel einen Logenplatz auf Lebenszeit besetzt hält.
    Wildlederstiefel mit Schneerändern, daran muss ich immer denken. Der trostloseste Anblick der Welt, das waren wir: Wildlederstiefel mit Schneerändern.
    Ich öffnete die nächste Flasche und hoffte auf Frieden für den Rest des Abends. Zum Glück hatte sie Hunger:
    «Wollen wir eigentlich noch was kochen?»
    «Ja. Was hältst du von Hähnchencurry? Und vorweg Rauke mit dem Dressing von getrockneten Tomaten.»
    «Ja. Sehr schön. Das hast du schon lange nicht mehr gemacht!»
    Ich hatte in der Küche schleichend das Regiment übernommen, da ich der begabtere Koch bin. Obwohl ich überhaupt kein Hobbytyp bin, ist Kochen mein einziges Hobby. Hobbykoch, talentierter Hobbykoch, genauer:
nicht untalentierter
Hobbykoch. Wenn die nagende Libido erst mal durchGaumenfreuden substituiert ist, geht man nicht mehr gemeinsam durch dick und dünn, sondern nur noch durch dick. Essen ist ein wirksames Sedativum und die schönste Belohnung dafür, dass man den Tag (bzw. das Leben, bis hierher wenigstens) überstanden hat. Essen bedeutet in erster Linie Feierabend. Tagsüber sollte man möglichst wenig oder gar nichts essen, um sich nicht um den Genuss der einen, riesigen Mahlzeit am Abend zu bringen, die noch dazu einen eleganten Übergang in den Schlaf ebnet. Kleine, gesunde und kalorienarme Portionen bleiben Menschen vorbehalten, die noch etwas vorhaben (Nightlife, div.) oder so alt wie möglich werden wollen, steinalt, alt wie ein Baum oder ein steinalter Tomatenstrauch. Gerade die Banalen genießen jeden Tag ihres Lebens, als wäre er der letzte, und freuen sich über den aktiv zurückgedrängten Tod und die ganze, viele, sinnlose Lebenserwartung.
    Wenn es mit Sonja und mir so weitergeht, ziehen wir vielleicht doch noch eines Tages zusammen und gründen irgendwo am Stadtrand eine Bedarfsgemeinschaft oder wie das heißt. Jeder hat sein eigenes Zimmer: Eyecatcher sind die beiden XXX L-Betten . In der ganzen Wohnung gibt es keinen Gegenstand, an dem man sich stoßen könnte, nur Polster. Keine Polstersessel oder Sofas, nein, Polster in ihrer reinsten Form: POLSTERMASSE. Wir verschwinden in Polstermasse und umgekehrt, man weiß bald nicht mehr, was was ist, die Wohnung als Thermohose. Alle Wände sind mit Schaumstoff und Eierpappe tapeziert. Irgendwann sind wir dann so dick, dass wir unsere Zimmer nicht mehr verlassen können, wir kommunizieren über Babyphone. So geht das über viele Jahre, aber am Ende müssenwir doch ins Krankenhaus, wegen Zucker oder Pumpe oder so. Da wir zu dick sind fürs Treppenhaus, werden wir mit einer sog. Schleifkorbtrage durchs Fenster herabgelassen und in eine Tierklinik verbracht, Tierklinik, weil die herkömmlichen Kernspintomographen zu klein sind, um uns zu durchleuchten, weshalb es einen für Pferde oder Kühe ausgelegten Spezialkernspintomographen braucht (gibt es wirklich, ich denk mir hier schließlich nicht irgendeinen Quatsch aus). Die Herzuntersuchung gestaltet sich schwierig, denn die Strahlen werden durch die Fettschichten so abgeschwächt, dass eine Deutung der Bilder kaum mehr möglich ist. Da die Hansestadt Hamburg nur über eine Schleifkorbtrage verfügt, muss eine zweite aus einem benachbarten Bundesland herangekarrt werden. Aus Kostengründen werden wir gemeinsam abgeseilt, sie aus ihrem Fenster, ich aus meinem. Nach vielen Jahren Babyphonekontakt
sehen
wir uns zum ersten und wahrscheinlich letzten Mal wieder. Blitzlichtgewitter, Kamerateams. Schlagzeile in der «Bild» . (Hamburgseite): «Die schönste Liebesgeschichte des Jahres».
     
    In der Küche bin ich der Chef:
    «Ich mach mal das Dressing. Du kannst Tomaten klein schneiden. Aber vergiss nicht, die Strünke rauszuschneiden.»
    «Jaja.»
    «Ich sag’s nur, weil du es manchmal vergisst. Strünke sind Abfall.

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