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Die Zunge Europas

Die Zunge Europas

Titel: Die Zunge Europas Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinz Strunk
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Freude bereiten. Mit jedem Jahr, das verstreicht, wird die Lage aussichtsloser, und am Ende kann man gar nicht fassen, dass DAS tatsächlich alles gewesen sein soll. Wahrscheinlich geht es den meisten Menschen so, mehr oder weniger. Das Leben gibt einfach zu viele Rätsel auf, unmöglich, auch nur ein einziges davon zu lösen. Oder das Prinzip zu entschlüsseln. Oder es gibtkein Prinzip. Irgendwann spülte mich ein trister Strom unergiebiger, gegenstandsloser Grübeleien in den Schlaf. Ablagerung. Verwerfung. Schlacke.
    Wie soll man so nur das lange, lange Leben herumbekommen?

MONTAG
    Die Steinzeit ging auch nicht zu Ende, weil die Steine ausgingen
    Sonjas Wecker klingelt am Montagmorgen immer um Viertel nach sechs. Ihr morgendlicher Parcours umfasst neun Stationen, für die sie exakt sechsundzwanzig Minuten benötigt. Das weiß ich so genau, weil ich die Zeit genommen habe. Mehrmals. Hat mich interessiert. Immer sechsundzwanzig Minuten. Der Gipfel unsympathischer Verschrobenheit: mit der Stoppuhr heimlich messen, wie lange die Freundin für ihre Morgentoilette benötigt.
    Zum Abschied tätschelte sie mir über den Kopf, na ja, mehr ein Rubbeln, so, wie man einem Haustier oder einem Kind durchs Haar fährt. Ich tue immer so, als würde ich noch schlafen, und mache entsprechende Geräusche. «Mmhh, jojo, Gottoohgott.»
    Als sie weg war, lag ich hellwach auf dem Rücken und fühlte mich unausgeschlafen, verkatert und zerschlagen. In dieser Verfassung bringt es nichts, sich zur Arbeit zu zwingen. Ich kann nur in absoluter Topform Topleistung bringen. Andererseits ist es nicht gut, bereits zum Wochenbeginn die Dinge schleifenzulassen, wie jeder andere habe auch ich das Bedürfnis, mich als vollwertiges Mitglied der arbeitenden Solidargemeinschaft zu fühlen. Prekäre Arbeitsverhältnissevs. durchgehende Erwerbsbiographien. Wer bereits am Montag verschläft, gerät schnell ins Hintertreffen und kann den Rückstand bald nicht mehr aufholen. Es nützt auch nichts, sich mit halbseidenen Taschenspielertricks (es kommt nicht darauf an, wann man
aufsteht
, sondern was man
schafft
) in die Tasche zu lügen. Wer sich selbst bescheißt, der bescheißt das Leben. Und das Leben kann man nicht bescheißen, das haben schon ganz andere versucht.
    Ich benötigte trotzdem noch ein, zwei Stunden Schlaf. Manchmal gelingt es mir, mich mit leichten, stumpfen, körperlichen Verrichtungen wieder müde zu arbeiten. Also auf und ab. Noch im Schlafanzug, räumte ich Flaschen, Gläser, Teller und Aschenbecher vom Wohnzimmer in die Küche, wobei ich fortwährend Sachen wie «Was man hat, das hat man», «Nützt ja nix», «Wat mutt, dat mutt» vor mich hin murmelte. Aus irgendwelchen Gründen ist es wichtig, so etwas nicht nur vor sich hin zu denken, sondern vor sich hin zu sprechen. Dann Abwasch. Belege ordnen. Glühbirnen austauschen. Ausgelesene Zeitschriften auf den Altpapierstapel schichten. Seifenspender auffüllen. Alte Telefonnummern löschen. Div. Die überwiegende Zeit seines Lebens verbringt der Mensch mit Routinetätigkeiten. Alleine einen Monat den Fernseher abstauben. Drei Wochen Sicherungen wechseln. Eine Woche Heizkörper entlüften. Drei Tage
nach Würmern graben.
     
    Ich wurde einfach nicht müde. Gott, war das schon wieder heiß. Und hell. Der Todessommer verrichtete ganze Arbeit:
Aus dem unbarmherzig hohen Firmament schlagen die
Lichtsäulen wie Peitschenhiebe auf den gequälten Kontinent, verbrennen alles Leben und wringen das letzte bisschen Wasser aus der fiebrigen Erdkrume. Flammenschwerter zerschneiden das staubige Land in glühende Quader. Die südliche Hügelkette ist bereits bis zur Krume durchgewetzt, das Tal liegt da wie eine offene Wunde und leckt sich mit rissiger Zunge das eingetrocknete Salz von den Hitzepusteln   …
(Dunkle, schroffe Phantasien)
    Ach, wäre es nur schon Herbst. Der bittersüße Herbst, Quartal der Genießer. Der Kaiser Franz der Jahreszeiten verstreicht in aristrokratischer Noblesse und kühlt Mensch und Tier sacht auf normale Betriebstemperatur herunter.
    Ich ging ins Badezimmer, um mir die Zähne zu putzen. 1
    Beim Zähneputzen oder Händewaschen oder Haarekämmen vermeide ich den Blick in den Spiegel. Mein Gesicht macht mir Angst. Es ist beunruhigenden, tages formabhängigen Wandlungen unterworfen, mal ist es klein, rundlich und gestaucht, dann wieder unnatürlich in die Länge gezogen, an anderen Tagen seltsam groß und viereckig. Vielleicht kommt das von den ungenauen Gedanken:

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