Die Zunge Europas
schwammige Gedanken = schwammiges Gesicht, scharfe Gedanken = fein ziselierter Charakterkopf. Waschbecken auswischen, Nase putzen, Zähne putzen, Gesicht waschen,Nägel schneiden, rasieren, ich mache praktisch alles blind. Eigentlich könnte ich den Spiegel auch abmontieren.
Der Tag ist, bei Lichte betrachtet, eine konturlose Masse Zeit, die sich im Ganzen unmöglich bewältigen lässt. Es gilt also, ihm eine Falle zu stellen bzw. ihn dahin zu locken, wo die Falltür ist, damit er hineinplumpst und bewusstlos liegenbleibt. Doch der Tag ist ein zäher Gegner, ein harter Hund, der sich zu wehren weiß: Er verwandelt sich (Terminator 2) in eine aus Klumpen und Fäden und Krisselzeug bestehende Mehlschwitze, man kann rühren und Milch nachschütten, bis man einen steifen Arm kriegt: Es tut sich einfach nichts. Eine andere Strategie ist erfolgversprechender: Keile in den Tag treiben, ihn zerhacken, zerkleinern, zerdrechseln, zermörsern oder ihm wie einem Luftballon die Luft rauslassen. Alles kann zum Keil werden: einkaufen, sauber machen, Keller entrümpeln, Schlüssel suchen, telefonieren, Batterien tauschen, Flaschen wegbringen, Toaster ausschütteln,
auf Krücken gehen, den Hund waschen
, haha. Stichworte Ritual, Taktung, Struktur (hatten wir schon mal, weiß ich selber). Genialer Spezialtrick: morgens Tee statt Kaffee, damit man nachmittags etwas hat, worauf man sich freuen kann. Von Haus aus bin ich Kaffeetrinker, ich habe mich aber auf die morgendliche Kanne grünen Tee umerzogen (Umerziehungslager), wie der Mensch sich ja praktisch alles an- und auch wieder abgewöhnen kann. Der nachmittägliche Koffeinschub trägt mich bis in die Abendstunden und wird vom Alkoholglimmer abgelöst. Zusammenfassung: morgens sachlich, nachmittags euphorisch, abends hysterisch.
Das half heute aber leider alles nichts, dafür habe ichmittlerweile ein untrügliches Gespür. Heute war einer der toten Tage, die man frühzeitig verloren geben muss, bevor man die Energie der ganzen Woche an ihm verbraucht. Aber: Ein toter Tag muss ordentlich beerdigt werden, sonst wird er zur Karteileiche, die in den unpassendsten Momenten aus irgendwelchen Schubladen herauslugt und einen an die Versäumnisse des ganzen Lebens erinnert. Kurz mit der Hand durch die Luft fahren und symbolisch den Tag bzw. dessen Seele einfangen. Der Tag ist in der geschlossenen Faust gefangen. Zum offenen Fenster gehen, Faust öffnen. Die Seele hängt kurz in der Luft, löst sich aber schnell auf, Indianer machen das auch so. Mit dieser Methode trickst man den Tag quasi mit seinen eigenen Mitteln aus, er ist dann nämlich vorbei, obwohl er noch vor einem liegt. Zeitvakuum, Raumkrümmung, Wurmloch, capito? Kann einer das Gegenteil beweisen? Eben! Die Beweislast liegt beim Tag.
Ich fläzte mich aufs Sofa, machte den Fernseher an und blieb nach ein paar Minuten bei RTL hängen. Der Vormittag auf RTL beginnt in aller Herrgottsfrühe mit dem «RTL Shop», der, obwohl auch schon einige Jährchen on Air, noch immer Verluste in Millionenhöhe einfährt. Wieso eigentlich? An Walter Freiwald, dem unaufhaltsam dicker werdenden Monolithen des Verkaufsfernsehens und seinen geschätzten dreihundert Euro Minitagesgage liegt es sichernicht.(Eigentlich war das niederländische Schwergewicht Harry Wijnford als Chefmoderator des «RTL Shops» vorgesehen, Harry hat das aber gründlich vermasselt, indem er an drei aufeinanderfolgenden Werktagen im gleichenAnzug zur Arbeit erschien und es außerdem an der nötigen Verve vermissen ließ. RTL fackelte nicht lange und stellte ihn mit sofortiger Wirkung frei. So schlug die Stunde seines ewigen Assistenten WF, der aus dem mächtigen Schlagschatten des kreuzgemütlichen Ex-Topsellers heraustrat und die Sendung bis heute mit seiner charakteristischen Mischung aus Leidenschaft und Augenzwinkern moderiert.) Dann doch eher an der ungeschickten Auswahl der beworbenen Produkte: Messer, die nicht schneiden, überteuerte «Schnäppchen» aus dem Mobilfunkbereich und Kleidung, die noch dicker macht (formschön). Die sollten sich ein Beispiel an QVC nehmen, dem aggressiven Spartenkanal, der vom ersten Tag an schwarze Zahlen schrieb. Quo vadis, «RTL Shop»?
Die Zeit zwischen halb zehn und zwölf gehört den Dokusoaps: «Einsatz in vier Wänden», «Mein Garten», «Unsere erste gemeinsame Wohnung», «Die Kinderärzte von St. Marien», «Meine Hochzeit», «Mein Baby» uswusf. Über jeder der halbstündigen Soaps liegt wie ein glibbriger Schmierfilm
Weitere Kostenlose Bücher