Die Zunge Europas
die perfekt geölte Stimme der RT L-Stationvoice . Wahrscheinlich verdient der mehr als Walter Freiwald und alle anderen «RTL Shop»-Moderatoren zusammen. Mein Favorit unter den Dokusoaps ist «Meine Hochzeit», das Konzentrat aus allen anderen Dokusoaps, als hätte man die Trostlosigkeit ausgepresst und daraus «Meine Hochzeit» destilliert (deren versteckter pädagogischer Sinn es ist, dem
deutschen Volke
jegliche Lust auf Familie und Fortpflanzung auszutreiben). Die deprimierendste aller deprimierenden Folgen aller Zeiten auf der ganzen Welt wurde mindestens dreimal ausgestrahlt,
ich
habe sie jedenfalls dreimal gesehen:
Ein frisch vermähltes Paar irgendwo aus dem Westfälischen begibt sich auf eintägige Stippvisite in die Hansestadt Hamburg, um sich dort in der Neuen Flora das Erfolgsmusical «Phantom der Oper» anzuschauen. Die Braut, die ungefähr so aussieht wie eine, die sich an Andrew-Lloyd-Webber-Musicals nicht sattsehen kann, hat das Phantom gemeinsam mit ihrer besten Freundin bereits siebenundzwanzigmal besucht, aber wenigstens einmal möchte sie dieses Erlebnis auch mit ihrem frischgebackenen Ehemann teilen. Das hat sie sich von ihm zur Hochzeit gewünscht. Sie wird sich dafür bis ans Lebensende nie wieder etwas wünschen.
Der Mann kann nicht nur mit Musicals nichts anfangen, er kann ganz allgemein mit Musik nichts anfangen, er findet einfach keinen Zugang. Privat hört er gar nichts und im Auto und auf der Arbeit Verkehrsmeldungen. Egal.
Die RT L-Redaktion hat sich natürlich wieder was einfallen lassen: Das Brautpaar
genießt
die Veranstaltung in voller Montur, d. h. sie ganz in Weiß und er tiefschwarz. Schnitt. Die Kamera zoomt ins Foyer, wo die Braut und der unendlich schlechtgelaunte, Kette rauchende Bräutigam neugierigen Besuchern Rede und Antwort stehen. Einhellige Meinung: «Echt witzige Idee das mit dem Outfit.» Man sieht dem Bräutigam an, wie sehr er sich schämt. Für seinen schlechtsitzenden Smoking, dass er sich von RTL zum Affen (seit neuestem: zum Horst) machen lässt und ganz besonders für seine schrecklich pummelige Frau. Sämtliche Frauen sehen besser aus als seine, abgesehen vielleicht von ein paar steinalten Schrumpelhanseatinnen (Reederwitwen). Schnitt. Das Brautpaar hat auf den Ehrenplätzenin der ersten Reihe Platz bezogen. Die Show beginnt. Jetzt kann der Bräutigam noch nicht mal mehr rauchen. Das verkackte Schrottmusical will einfach nicht zu Ende gehen. Ein Wahnsinn, das läuft bereits seit zwölf oder vierzehn oder sechzig Jahren und hat immer noch eine durchschnittliche Auslastung von 93,5 oder 94,7 %. Ernsthaft irre. Was für ein ekelhafter Mensch Andrew Lloyd Webber sein muss. Schnitt. Endlich ist das verfickte Drecksstück vorbei. Noch im Schlussapplaus steht die Braut auf, dreht sich mit dem Rücken zur Bühne und schleudert mit aller Kraft beidarmig den mannsgroßen Brautstrauß nach hinten, der, so hat es die RT L-Redaktion organisiert, vom Phantom persönlich gefangen wird. Es klappt natürlich wie vorgesehen. Das Phantom, immer noch mit Phantommaske, tut so, als wäre alles gar nicht so schlimm. Die übrigen Darsteller applaudieren. Wenn man hauptberuflich Musicaldarsteller ist, muss man einiges mitmachen.
Sommer 2014: Das große Finale von «Meine Hochzeit» wird in doppelter Länge und das erste Mal zur Primetime ausgestrahlt. Die Castings liefen über Monate, mehr als zehntausend Paare haben sich beworben. Mein Telefon klingelt. Ich schaue aufs Display. Hä, was ist denn das für eine Vorwahl, 0221? Ich kenne niemanden aus dieser Region und will schon nicht rangehen, da durchzuckt es mich. Das darf doch nicht wahr sein! 0221, das ist ja Köln, der Sitz von RTL! WIR HABEN TATSÄCHLICH DAS GROSSE LOS GEZOGEN!
Der nicht mehr zu toppende Masterplan der Redaktion: Weil wir riesige Fans der Stones sind, sollen wir uns direkt im Anschluss an ein Steinekonzert im Backstage-Bereichdas Jawort geben. Der originale Lichttechniker ist Trauzeuge, und sogar Charlie «Drums» Watts wird zum Anstoßen erwartet. RTL hat über Monate mit dem Management verhandelt. Erst wollten die Stones nicht, doch bei eins Komma fünf Millionen sind sie eingeknickt. Schnitt. Die Kamera zoomt aufs Stadion. Das Konzert ist ausverkauft. Mick Jagger tobt trotz seiner mittlerweile plus minus achtzig Lenze wie ein Verrückter über die zweihundert mal siebenhundert Meter große Bühne. Der ausgemergelte Uraltschrat ist unbestritten der Größte. Mick Jagger und Keith Richards sind
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