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Die Zunge Europas

Die Zunge Europas

Titel: Die Zunge Europas Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinz Strunk
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Simone muss doch mittlerweile über vierzig sein, ich bitte dich. Darf ich dich daran erinnern, dass du gerade mit einer Fünfzehnjährigen schlafen wolltest?»
    «Ach komm, jetzt lass mich nicht im Stich.»
    «Ich weiß auch nicht. Lass uns nicht mehr davon reden.»
    «Ich muss nach Hause, mir geht’s nicht gut. Jetzt heißt es zittern.»
    «Ach, wird schon. Ich hau auch ab. Lass mal morgen telefonieren.»
     
    Nach dem mächtigen Käsekuchen hatte ich Appetit auf etwas Leichtes, Gesundes, Erfrischendes. Ich tat einen Beutel Tomatensauce in die Mikrowelle, setzte Nudelwasser auf und überbrückte die Wartezeit mit der Lektüre des Wochenblatts. Das Wochenblatt ist eine intakte Welt, in der auch der kleine Mann, die Melkkuh der Nation, mal zu Wort kommt. Auf Seite fünf wurden die Verdienste eines gewissen Heinz Brenner gewürdigt: «Ein echter Blutsbruder geht in Rente: Nachdem er in 35   Jahren rund 75   Liter Blut gespendet hat, lässt sich Heinz Brenner morgen zum letzten Mal in der Transfusionszentrale anzapfen. Der Dauerspender erreicht das 68.   Lebensjahr und beendet aus Altersgründen seine Blutspenderkarriere. Rund 150   Mal hat er gespendet.» Heinz Brenner ist sicher ein ganz feiner Mann. Die Mikrowellenglocke erklang, und gleichzeitig piepte mein Mobiltelefon. Das war Timing. Mein Leben glich einem Räderwerk. Alles greift irgendwie ineinander. Ich rechnete mit einer Jammer-SMS von Sven, aber die Telefonnummer, die im Display erschien, hatte ich nicht gespeichert. «Bock, morgen auszugehen? Zweiundzwanzig Uhr bei mir   … Janne.»
    Oje. Ausgehen. Zweiundzwanzig Uhr. Im Sprachgebrauch junger Leute bedeutet «ausgehen» bis in die Puppenaufbleiben, feiern, tanzen und verrückte Sachen machen. Also all das, wofür ich mich nicht eignete. Wenn überhaupt, eignete ich mich für ereignisarme Unternehmungen mit geringer Reizdichte. Picknick, Zoobesuche, wenn’s hochkommt, Kino. Ich verstehe keinen Spaß und gönne auch anderen keinen. Mir fiel der schöne Satz mit dem misanthropischen Rand wieder ein. Astrein. Für jede Lebenslage zaubert Peter Sloterdijk einen passenden Spruch aus seinem Denkerhut. Wer viel feiert, stirbt auch früh. Da ist es doch klüger, auf toter Mann zu machen und so den Zahn der Zeit zu ziehen. Wieso ging sie nicht mit ihren Leuten aus? Die musste doch Freunde haben wie Sand am Meer. Sie war bestimmt eine gute Tänzerin. Was dem einen sein Raclette-Abend, ist dem anderen seine Goa-Party. Eine Zeitlang hatte ich sehr gern Raclette gegessen, weil die fingerhutgroßen Zwergenpfännchen einen zum Langsamessen zwingen. Langsamessen = mehr Genuss, Zeiten, in denen ich noch das Wolkenkuckucksheim bewohnte. Ob wohl mittlerweile eine neue Generation von Raclettegrills auf dem Markt ist, mit Erwachsenenpfannen? Oder gar mannsgroße Raclettewoks, für Hungrige? Seit wann gibt es Raclette überhaupt? Typische Siebziger-Jahre-Erfindung, Hippiequatsch. Raclette ist die Eventgastronomie des kleinen Mannes. Apropos: Seit wann gibt es eigentlich Eventgastronomie? Entertainment direkt am Tisch. Zur Suppe Kartentricks, der Salat wird serviert von handzahmen Äffchen. Zwischen den Gängen Zwergenweitwurf und Rentnerbungee. Der rote Faden des Events ist ein wiederkehrendes kulinarisches Motiv: Rind im Rind. Ein kleines, mit Rind gefülltes Rind wird in einemgroßen Rind mitgegrillt. Statt Verdauungsschnaps Gehirnjogging. Thema: legendäre europäische Rabattschlachten. Zum Abschied überreichen bildhübsche Hostessen jedem Gast ein T-Shirt in seiner Temperamentsfarbe. Beige für Majonäse, Rot für Ketchup, denn es gibt in Wahrheit nur zwei Kategorien: den Ketchup- und den Majonäsetyp. Ich schrieb zurück: EINVERSTANDEN. ERDMANN. In Großbuchstaben.

FREITAG
    Hermeneutische Geilheit
    Ich lag auf dem Rücken und spürte, wie sich etwas angenehm Warmes und Feuchtes um meine Körpermitte ausbreitete, dann jedoch schnell unangenehm kalt wurde. Ich zog meine Hand unter dem Kopfkissen hervor und ließ sie langsam nach unten wandern. O Gott o Gott o Gott. Klitschnass! Ich tastete mich nach oben. In meinem Bauchnabel hatte sich eine Lache gebildet, das Schlafanzugteil war klatschnass. Vollgepisst bis zur Brust, wie ein großer Hund, den man in ein Zimmer gesperrt und dort vergessen hat. Lange vor der Zeit hatte es mich erwischt, ein Unterleibsschicksal: Nebenhodenentzündung, Genitalwarzen, kanadische Preiselbeeren (klingt ganz schön mysteriös, was? Gibt’s aber. Wen’s interessiert: selber

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