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Die Zunge Europas

Die Zunge Europas

Titel: Die Zunge Europas Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinz Strunk
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zusammen mit dem Schlafanzug in die Waschmaschine. Und die Matratze? Am besten aufrecht stellen, damit Luft rankommt? Mir fehlten die Erfahrungswerte. Noch.
     
    Erst elf. Noch zehn Stunden bis zum Gute-Laune-Abend. Wie machen das eigentlich die anderen, die spätestens ab Mittwoch aufs Wochenende hinfiebern? Von Freitagnachmittag (Holla, die Waldfee) bis Sonntagabend (Ende im Gelände) feiern gehen. Fünf-vier-drei-zwei-eins-Wochenende! Bescheuerte des Tages, Begeisterte der Nacht, die einen scheitern hier, die anderen da. Einzig auf die Angst ist Verlass, denn die Angst ist unser großer Führer. Und jetzt? Sport? Dann wär ich nachher zu schlapp. Wohnung war halbwegs sauber. Körperpflege mit gründlicher Inspektion entlegener Stellen dauert auch nicht ewig.
    Die Zunge Europas, das war es! Mein taufrisches Projekt vorbereiten, die Voraussetzungen schaffen, um gleich am Montagmorgen mit der Arbeit beginnen zu können. Am Anfang muss das Gespräch mit Onkel Friedrich stehen, wg. emotionaler Einstimmung. Die Sachinformationen konnte ich mir auch woanders holen: Kaffeetrinker,Kaffeehändler, Kaffeegroßhändler, Kaffeeexperten, Kaffeetrinken (Selbstversuch), Internet, Buchladen: «Entschuldigung, ich bin angetreten, den Schlüsselroman über die große, weite Welt des Kaffees zu schreiben. Was gibt es denn zu diesem Thema alles?» Warum nicht. Why not. Einfache Fragen, komplizierte Antworten. Onkel Friedrich hatte seine Laufbahn in der Nachkriegszeit begonnen, also musste auch die Geschichte in dieser Zeit spielen. Oder nicht? Was genau sollte es eigentlich für ein Buch werden? Eine
Melange
(Herr Ober, eine Melange!) aus Sachbuch und Unterhaltungsroman? Eine Psychogroteske? Ein Kaffeekrimi? Eine in- und miteinander verschachtelte und verschränkte Familiensaga (Schachtelroman) über viele Generationen (Generationenschachtelroman). Papa, Mama, Tante, Onkel, Opa, Oma, Vetter, Base, Schwippschwager, Duzfreund. Noch auf p. 643 wird eine Figur eingeführt, die nach 41   Seiten wieder abtritt und ff. nie wieder auftaucht. Langweilige Weltliteratur   – Makro- oder Mikrostruktur? Realismusparodie oder Metakomik? Affektive Dramaturgie oder neurophysiologisches Gefrickel? Pentatonische Überschaubarkeit oder chromatische Wirrnis? Enthusiasmus oder niederfrequentige Begeisterung? Paradox oder stringent, aussparen oder verdichten, atmen oder Schwitzkasten, Abba oder Zappa? Fragen über Fragen. Das Einzige, was ich auf sicher wusste, war, dass das Wort «flussabwärts» nicht auftauchen würde. Egal. Das Wichtigste ist der Sound. Am Anfang steht der Ton. Im Idealfall der hohe Ton. Pliiiing. Der ganze Text muss nach diesem einen Ton klingen:
    Es war ein kühler, jedoch nicht kalter Herbsttag. Bald 16   Uhr,
ich musste los. Ich fuhr mit der S3 bis Trittau, stieg dann in den 119er bis Talweg. In der Nr.   43 war die Werkstatt. Leo hatte gesagt, ich solle keinesfalls vor halb fünf kommen. Jetzt war es Viertel vor. Trotzdem wanderte ich noch eine Weile die Straße entlang. Bäume. Autos. Kinder. 17   Uhr. (Ein zahlenlastiger Text. Aber interessant.) Ich ging in die Werkstatt, um Leo abzuholen. Werkbank vier, hatte er gesagt. Er war nicht an seinem Platz. Ich schaute mich um. Wahrscheinlich würde er bald kommen. In der angenehm klimatisierten Halle hing ein helles, kaum vernehmbares Surren. Jetzt erst fiel mir auf, dass keiner aufgeschaut hatte, als ich hereingekommen war. Die Männer arbeiteten in sich versunken, mit mehr oder weniger identischen Bewegungen. Sie schienen alle die gleiche Arbeit zu verrichten, hantierten alle mit sehr dünnem Draht. Nach wenigen Minuten setzte ich mich an Leos Werkbank. Links von mir lagen große Mengen Draht. Nachdem ich eine Weile nur dagesessen hatte, nahmen meine Hände sich automatisch eine Spule Draht vor. Erst behutsam, dann immer energischer knetete ich daran herum, es war wie ein Sog. Nachdem ich anfänglich noch ein-, zweimal unsicher um mich geschaut hatte, versank ich immer mehr in mir selbst. Ich formte Gegenstände, wie es sie nicht gegeben hatte. Objekte ohne Bedeutung oder Funktion. Auch an den anderen Werkbänken schienen nur zweckfreie Gegenstände zu entstehen. Immer flinker und behänder formten meine Finger neue Dinge. Ich wurde Teil des Surrens. Meine Euphorie verstärkte sich, ein unbekanntes Gefühl von Heimat stieg in mir auf. Alle arbeiteten mit Draht. Wo war Leo? Ich hatte es vergessen. Ich nahm eine neue Rolle Draht.
    So vielleicht. Statt Draht nur eben

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