Die Zwanziger Jahre (German Edition)
Steuerinspektor beim Koblenzer Finanzamt hätte ich meine kleine Familie ernähren können, und das Steuerrecht machte mir durchaus Spaß. Aber ich hatte inzwischen den höheren Dienst der Verwaltung kennengelernt. So schwer konnte ein Jurastudium doch nicht sein! Also verabschiedete ich mich Ende 1968 nach nur einem halben Jahr wieder aus der Finanzverwaltung und schrieb mich an der Universität Mainz ein.
Ohne familiäre Unterstützung hätte ich nicht studieren können, denn ich hatte ja nun kein Einkommen mehr. Aber meine Schwiegereltern halfen uns, und meine Großmutter, die über eine anständige Pension verfügte, gab meiner Frau und mir jeden Monat einen Scheck, den wir nach Belieben verwenden durften. Sie hat uns nie das Gefühl gegeben, von ihr abhängig zu sein. Sie war schon viele Jahre krank, aber offenbar hatte sie gespürt, dass ich sie noch brauchte. Gestorben ist sie im August1972 , kurz vor meinem Examen. Ich bin dieser großartigen Frau unendlich dankbar. Sie war mein großer Glücksfall.
Als Referendar verdiente ich nun genug für mich und meine Familie, und Anfang 1975 legte ich mein zweites Staatsexamen ab. Leider kam mir wegen der starren Haltung der Finanzverwaltung meine vorangegangene Berufsausbildung nicht zugute, und ich nutzte das erste Halbjahr meiner unnötigen Zusatzausbildung, um meine Promotion fortzusetzen, die ich während des Studiums begonnen hatte. Als ich dann einen Anruf vom Landrat des Westerwaldkreises bekam, ob ich nicht bei ihm Dezernent werden wolle, musste ich nicht lange überlegen. Im August 1975 begann ich meinen Dienst in der Kreisverwaltung in Montabaur.
Wenn du als junger Studienabsolvent in ein solches Aufgabenfeld kommst, spürst du das wahre Leben. Als Landrat Heinen, eine starke Persönlichkeit und ein gebildeter Mensch, mich fragte, was ich machen wollte, habe ich als Jurist das Naheliegende genannt: Ich wolle im Kreisrechtsausschuss tätig werden. Er lachte nur und sagte: »Das ist doch viel zu eng für Sie. Ich habe vorgesehen, Ihnen ein Dezernat zu übertragen.« So war ich zuständig für Personal, Finanzen, Bauwesen und Umweltschutz. Plötzlich sollte ich eine Führungspersönlichkeit sein; natürlich hat mich das angespornt, aber zugleich spürte ich die Last der Verantwortung. Ich hatte noch viel zu lernen, denn hier stand nicht juristisches Wissen im Vordergrund, sondern Menschenführung.
Und ich war gleich gefordert. Nach wenigen Tagen im Amt gab es eine große Protestkundgebung. In Moschheim, in der Nähe von Montabaur, hatte sich in einer Tongrube ein Müllsee gebildet, der bestialisch stank. Der DGB und andere Organisationen hatten zu der Demonstration aufgerufen, und viele Menschen kamen. Ich musste Rede und Antwort stehen und, was viel wichtiger war, Lösungen finden. Man hatte wohl nicht bedacht, dass eine Tongrube zwar den eingelagerten Müll nach unten abdichtet, aber eben auch kein Regenwasser durchlässt. Am Ende blieb uns nichts anders übrig, als diesen Müllsee auszufahren und die stinkende Brühe auf die Felder in der Umgebung zu verteilen.
Damals war es kein Problem, von den Grundstücksbesitzern die Genehmigung dafür zu bekommen; heute würde man das vermutlich anders lösen. Aber unterm Strich habe ich diese Aufgabe wohl zur allgemeinen Zufriedenheit erledigt und war damit von Anfang an voll im Geschäft.
Ich hatte auch das spezielle Vergnügen, dem Gremium anzugehören, das über ein neues Westerwald-Lied entscheiden sollte. Unsere Fremdenverkehrs-Experten waren der Meinung, das berühmte Stammtischlied »O du schöner Westerwald« mit seiner Zeile »über deine Höhen pfeift der Wind so kalt« könne die Feriengäste abschrecken. So wurde ein neues, »positiveres« Westerwald-Lied kreiert, das den Titel trug »Westerwald, du bist so schön«. Wer davon noch nie gehört hat, sollte sich nicht grämen: Das Werk hat sich nicht durchgesetzt. Für echte Westerwald-Fans gehört der kalte Wind einfach dazu.
In der Kreisverwaltung spürte ich zum ersten Mal, wie verführerisch es sein kann, wenn kleine Geschenke oder Vergünstigungen locken. Ein Bauherr, der sich bei mir als Baudezernent für die zügige Genehmigung seines Antrags bedanken wollte, legte mir einen Knirps auf den Schreibtisch, einen jener auf Kleinformat eingeklappten Regenschirme, die damals in Mode kamen. Ich hatte jedenfalls so etwas vorher noch nie gesehen und nahm den Knirps mit nach Hause.
Doch nachdem ich eine Nacht darüber geschlafen hatte, ging ich am
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