Die Zwanziger Jahre (German Edition)
bis 2006 an die Grenzen seiner Belastbarkeit gegangen; wenn ich nicht so eine robuste Natur hätte und auch im Auto oder im Zug jederzeit gut schlafen könnte, hätte ich diese Monate und Jahre wohl nicht unbeschadet überstanden. Jedenfalls wurde uns allen bewusst, dass unsere Kraft nicht unendlich ist.
Im Präsidium des OK arbeitete ich mit außergewöhnlichen Menschen zusammen. Die Galionsfigur war natürlich Franz Beckenbauer, eine überragende Persönlichkeit im Sport und darüber hinaus. Er spielte zu keinem Zeitpunkt nur den Grüß-Gott-August, wie ihm das manche unterstellt hatten. Mit seiner bescheidenen und sympathischen Art nahm er die Menschen in der ganzen Welt für sich ein, sprach mit allen immer auf Augenhöhe und begegnete ihnen mit Respekt. Nach dem, was er erreicht hat, hätte er allen Grund, abgehoben und arrogant zu sein, doch das lag und liegt ihm fern. Jeder darf ihn Franz nennen, immer ist er höflich, nie verletzend, dabei hebt er alle Schranken auf, weil er auf die Menschen zugeht.
Aber auch was er im OK leistete, war gigantisch. Seine große Stärke ist, dass er zuhören kann und das Gehörte sofort einsetzt. Gerade dort, wo er sich nicht so gut auskennt. Ich fand es immer wieder verblüffend, wie er dank seiner schnellen Auffassungsgabe neue Informationen sofort bei seinem nächsten Auftritt einbaute. In den Sitzungen kehrte er nie den Chef heraus, sondern erteilte denen das Wort, die jeweils die Sachkompetenz besaßen, und er lernte auch dazu. Verblüffend, wie er selbst Laien schwierige Sachverhalte mit seinen Worten so erklärte, dass man sie ganz einfach verstehen konnte.
Obwohl er nach seiner einzigartigen Fußballerkarriere mit dem WM -Titel von 1974 als Höhepunkt sich eigentlich zur Ruhe hätte setzen und von lukrativen Werbeverträgen allein hätte leben können, ließ er sich immer wieder in die Pflicht nehmen. Ob 1984 als Nachfolger des glücklosen Bundestrainers Jupp Derwall, als er die Nationalmannschaft sechs Jahre später zum Weltmeister machte, ob als Aushilfstrainer bei seinen Bayern, wenn denen ein titelloses Jahr drohte, oder als er Egidius Brauns Wunsch nachkam, die deutsche WM -Bewerbung als Symbolfigur zu vertreten. Daher rührt auch seine immense Popularität: Die Leute spüren es, ob jemand nur ans Geldverdienen denkt oder ob er sich für das allgemeine Wohl in die Pflicht nehmen lässt.
Als Präsident des Organisationskomitees amtierte er ehrenamtlich. Das war ihm wichtig, nur die Maßstäbe waren ihm offenbar nicht ganz klar. Wir boten ihm an, das Amt wie der Franzose Michel Platini, der die WM 1998 organisiert hatte, hauptamtlich zu übernehmen und sich dafür anständig bezahlen zu lassen. Bei einer WM werden schließlich Hunderte von Millionen umgesetzt, und der Organisationschef muss rund um die Uhr zur Verfügung stehen, Entscheidungen treffen und repräsentieren. Doch Franz bestand auf dem Ehrenamt, auch wenn er sich zunächst eine Aufwandsentschädigung in beträchtlicher Höhe hätte vorstellen können. Er wäre jeden Cent wert gewesen, aber für einen Ehrenamtler kann und darf ein gemeinnütziger Verband nicht so viel Geld ausgeben.
Also verzichtete er und gab sich mit der üblichen Entschädigung zufrieden, die angesichts seiner sonstigen Einnahmen wohl nicht mehr als ein Taschengeld war. Beckenbauer hatte den klaren Unterschied zwischen Haupt- und Ehrenamt verstanden; es ging ihm nicht ums Geld, sondern um die Sympathien, die er gewinnen konnte. Er wollte zeigen, dass es für ihn eine Ehre war, diese WM für Deutschland zu organisieren, weil ihm dieses Land die Möglichkeit gegeben hatte, als Fußballer aus kleinsten Verhältnissen eine Weltkarriere zu machen, die er sich im Traum nicht hätte vorstellen können. Und sein Hausmedium, die »Bild«-Zeitung, ließ natürlich keine Gelegenheit aus, zu betonen, dass Franz Beckenbauer als Präsident des Organisationskomitees ehrenamtlich arbeitete.
Was er im WM-Organisationskomitee leistete, war gigantisch: Franz Beckenbauer (©dpa Picture Alliance).
Wie unverkrampft er mit seiner eigenen Berühmtheit umging, zeigt eine Begebenheit aus einer OK -Sitzung in München, an der Horst R. Schmidt, Wolfgang Niersbach, Fedor Radmann und ich teilnahmen. Als einzige Frau war unsere Mitarbeiterin Sandra Mannel als Protokollführerin dabei. Und der fiel fast der Bleistift aus der Hand, als Franz Beckenbauer plötzlich aufstand, sich in eine Ecke des Raums zurückzog, um sich wie selbstverständlich auszuziehen. Am
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