Die zwei Leben der Alice Pendelbury: Roman (German Edition)
Alice rennt zur Treppe, die Frau wartet unten, verbietet ihr aber, sich zu nähern. Sie schwört ihr ihre Liebe und verabschiedet sich.
Sie entfernt sich, und ihre Silhouette wird immer kleiner, bis sie nur noch ein winziger Punkt ist, in Alices Herz jedoch wächst sie zu gewaltiger Größe an.
Alice läuft ihr nach, doch die Stufen unter ihren Füßen werden rissig, plötzlich klafft ein tiefer Spalt in der Treppe, und das Grollen hinter ihr wird immer grauenvoller. Alice hebt den Kopf, eine glühende Sonne verbrennt ihre Haut, sie spürt den Schweiß auf ihrem Körper, den salzigen Geschmack auf ihren Lippen, die Erde in ihren Haaren. Um sie herum machen wirbelnde Staubwolken die Luft unerträglich.
Wenige Meter entfernt hört sie Klagelaute, ein Stöhnen, gemurmelte Worte, deren Sinn sie nicht versteht. Ihre Kehle schnürt sich zusammen, Alice erstickt.
Eine kräftige Hand packt sie beim Arm und hebt sie in dem Moment hoch, in dem die große Treppe unter ihren Füßen nachzugeben scheint.
Alice schreit und setzt sich, so gut sie kann, zur Wehr, doch der Arm, der sie hält, ist viel zu stark. Alice spürt, dass sie das Bewusstsein verliert, eine Ohnmacht, gegen die anzukämpfen sinnlos ist. Der Himmel über ihr ist weit und rot.
Alice öffnete die Augen, und die Schneedecke auf dem Glasdach blendete sie. Sie zitterte, ihre Stirn glühte vor Fieber. Sie tastete nach dem Wasserglas auf dem Nachtkästchen, doch beim ersten Schluck überkam sie ein Hustenanfall. Sie musste aufstehen, eine Decke holen, irgendetwas, um die eisige Kälte zu vertreiben, die sie bis ins Mark durchdrang. Vergeblich versuchte sie, sich aufzurichten, und verfiel erneut in unruhigen Schlaf.
Sie hört, wie jemand einen Namen flüstert. Er klingt wie Anouche. Eine vertraute Stimme versucht, sie zu beruhigen. Sie hockt zusammengekrümmt, den Kopf zwischen den Knien, in einer Kammer versteckt. Eine Hand auf ihrem Mund macht es ihr unmöglich zu sprechen. Sie will weinen, doch die, die sie in ihren Armen hält, fleht sie an, still zu sein.
Sie hört ein Trommeln an der Tür. Die Schläge werden immer heftiger, und nun kommen auch laute Fußtritte dazu. Dann Schritte, jemand ist hereingekommen. In der kleinen Kammer hält Alice die Luft an, ihr scheint, als hätte sie aufgehört zu atmen.
»Alice, wachen Sie auf!«
Daldry trat an ihr Bett und legte eine Hand auf ihre Stirn.
»Sie Ärmste, Sie glühen ja förmlich.«
Daldry half ihr, sich aufzurichten, schüttelte das Kopfkissen auf und legte sie wieder hin. »Ich rufe einen Arzt.«
Kurz darauf kehrte er an ihr Bett zurück. »Ich fürchte, Sie haben sich mehr als einen Schnupfen eingefangen. Der Doktor kommt gleich. Ruhen Sie sich aus, ich bleibe bei Ihnen.« Daldry setzte sich ans Fußende des Betts und tat wie versprochen.
Vor Ablauf einer Stunde kam der Arzt. Er untersuchte Alice, fühlte ihren Puls und horchte Herz und Lunge ab. »Man darf ihren Zustand nicht auf die leichte Schulter nehmen, vermutlich handelt es sich um eine Grippe. Sie soll im Bett bleiben und schwitzen. Achten Sie darauf, dass sie trinkt«, sagte er zu Daldry. »Lauwarmes, schwach gezuckertes Wasser oder Kräutertee in kleinen Mengen, dafür aber so oft wie möglich.« Dann gab er Daldry Aspirin. »Damit müsste das Fieber sinken. Wenn es morgen nicht besser wird, bringen Sie sie ins Krankenhaus.«
Daldry bezahlte den Arzt und bedankte sich, dass er an Weihnachten gekommen war. Dann holte er zwei dicke Decken aus seiner Wohnung und breitete sie über Alice aus. Anschließend schob er den Sessel vom Arbeitstisch in die Mitte des Zimmers und richtete sich für die Nacht ein.
»Ich frage mich, ob ich es nicht doch vorziehe, wenn Ihre lauten Freunde mich am Schlafen hindern, zumindest liege ich dann in meinem Bett«, sagte er brummelnd.
Der Lärm im Zimmer verstummt. Alice stößt die Tür des Schranks auf, in dem sie versteckt ist. Jetzt herrscht nur noch Stille und Leere. Die Möbel sind umgestoßen, das Bett ist aufgedeckt. Am Boden liegt ein zerbrochener Bilderrahmen. Alice schiebt vorsichtig die Glasscherben beiseite und stellt das Bild an seinen Platz auf das Nachtkästchen zurück. Es ist eine Tuschezeichnung, von der ihr zwei Gesichter zulächeln. Das Fenster steht offen, von draußen weht ein leichter Wind herein und bewegt die Vorhänge. Alice geht hin, doch die Fensterbank ist zu hoch, und sie klettert auf einen Hocker, um hinaussehen zu können. Das Tageslicht blendet sie, sodass sie die Augen
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